Der Film zum Bau des "Grossen" Tunnels Göschenen – Airolo

Nachdem die Zugriffe auf dieser Website an den Tagen um die der Ausstrahlung der Filmteile auf über 2'000 Besucher täglich angewachsen sind, und ich auch auf der Strasse und per Email oft um meine Meinung zum Film gebeten wurde, habe ich mich doch noch entschieden, eine Stellungnahme zum Film abzugeben.
Ich betrachte das Ganze als einen zweiteiligen Spielfilm, also als eine Handlung, die frei erfunden ist, die sich aber, im vorliegenden Fall sogar sehr stark, an historischen Begebenheiten orientiert.
Ähnliches hat ja schön früher Emilio Geiler in seinen Romanen zur Gotthardbahn gemacht.

Als Ganzes finde ich den Film sehr stimmig gemacht.
Er fängt die Mühsal aber auch Perspektive-Losigkeit der Tunnel-Arbeiter sehr gut ein.
Es gelingt den Machern über weite Strecken auch gut, den Zwiespalt der Einwohner Göschenens aufzuzeigen, zwischen der kurzlebigen Möglichkeit, an den Arbeitern willkommenes Geld zu verdienen und dem Verlust der Menschlichkeit.
Auch die Arbeitsverhältnisse im Tunnel und dessen Enge sind durchaus realistisch gestaltet.
Ebenfalls die Weitergabe des (Leistungs-)Druckes durch die Vorgesetzten auf die Arbeiter ist erfahrbar.
Selbst die Gründe, welche schliesslich im Juni 1875 zum Streik führten, werden annehmbar aufgezeigt.

Würde ich die Historie nicht genau kennen, würde ich durchaus sagen: Da haben die Macher einen tollen Film gemacht.

Trotzdem kann ich mich, auch unter obigen Gesichtspunkten, an einigen Stellen einer Kritik nicht enthalten:
Welche Gründe haben dafür gesprochen, das Tunnelportal des Zugangstunnels in Airolo als Kulisse für Göschenen zu wählen?
Als einzigen Grund sehe ich nur, dass er mit seinen Stützwänden eben wie ein Tunnelportal aussieht.
Ich finde aber, dass sich der originale Tunnelmund von Göschenen eigentlich weitaus spannender und unfertiger, und damit dramatischer dargeboten hätte. (Siehe Bilder unten)

Themenbild

Schutzgalerie des Gotthardtunnels in Göschenen 1874

Damit könnte ich mich allerdings, unter den eingangs dargelegten Gründen, noch anfreunden.

Anders ehe ich das in Bezug auf die Person Favres.
Auf Grund meiner Kenntnisse schätze ich die Persönlichkeit Favres keineswegs so ein, dass er sich Selbstmordgedanken hingegeben hätte.
Das mag als „Cliffhänger“ (das gute, alte „Fortsetzung folgt“) zwar eine tolle Lösung sein, wird nun aber der Person Favres absolut nicht gerecht.
Dasselbe gilt für seinen „Ausraster“ im Tunnel und seinen Tod.
Die historische Wahrheit ist natürlich banaler, denn Favre war mit dem Oberingenieur der Paris-Lyon-Mittelmeer Bahn auf einer Besichtigungstour im Tunnel, als ihm unwohl wurde. Er bat seine Begleiter schon voraus zu gehen, er würde sich kurz setzen und dann folgen. Als Favre nicht kam, ging man zurück und fand ihn tot, an der Tunnelwand sitzend.
Nun auch hier kann ich mich mit der „filmischen Freiheit“ noch einverstanden erklären.

Völlig unerklärlich ist mir allerdings, weshalb der Streik selbst und die Schiesserei auf dies Weise dargestellt wird.
Hält man sich im restlichen Geschehen doch recht nahe an der Historie, entfernt man sich hier aus mir unerklärlichen Gründen, sehr weit von der historischen Wahrheit und kolportiert ein Geschehen, wie es bereits 1875 in einem Stich völlig falsch dargestellt wurde.
Und hier habe ich so meine Mühe mit den beteiligten Historikern.
Diese Geschichtsklitterung hätte man verhindern müssen.
Der tatsächliche Ablauf des Geschehens während diesen zwei Tagen in Göschenen ist nämlich historisch breit untersucht und deshalb bestens dokumentiert.

Natürlich gab es schiessende Landjäger und Ortswehrler. Das ist unbestritten.
Aber ich sehe hier keine filmischen Gründe, weshalb das Geschehen aus dem Dorf vor das Tunnelpotal verschoben wurde.
Und ich sehe keine Gründe, weshalb im Film die unbewaffneten Arbeiter, entgegen dem tatsächlichen Geschehen, füsiliert werden.
Nein! Dramatische Gründe lasse ich nicht gelten.
Die Realität war nämlich meiner Meinung nach noch bedeutend dramatischer.
Nachdem am späten Abend der Streik ausgerufen und der Tunneleingang durch die Arbeiter blockiert worden war, verlagerte sich das Geschehen am anderen Tag ins Dorf Göschenen selbst. Am Vormittag waren Arbeiter mit roten Fahnen auf der Landstrasse (heutige Kantonsstrasse durch das Dorf) unterwegs und skandierten Parolen und belästigten Leute, welche unterwegs waren.

Ab Mittag änderte sich das Bild auf der Dorfstrasse aber vollständig.
Hunderte von Leuten – Arbeiter, Göschener, Männer, Frauen und Kinder hatten ihr Sonntagsgewand angezogen.
Auf der Landstrasse wurde gesungen, getanzt und ein Volksfest gefeiert.

Bis, ja bis die von der Urnerischen Obrigkeit aus Altdorf geschickte Miliztruppe aus Landjägern und Privatleuten in Göschenen eintraf, der Gemeindepräsident seine schnellstens zusammengesuchte Ortswehr bewaffnete und das Drama seinen Lauf nahm.
Die zwischen den vielen spöttelnden Leuten eingekesselten, verängstigten Ortswehrler schossen in ihrer Angst ohne Befehl in die Luft.
Die weiter oben stehende Miliz der Urner Regierung folgte dem Beispiel.
Als Antwort von Italiener-Seite flogen aus den Zuschauerreihen am Abhang Steine.
Nach ein paar Minuten war der Spuk vorbei und am Ende waren fünf Arbeiter tot.

Ich finde, diese zwiespältige Seite des Streiks – da die feiernden Menschen, und dort die sich im Recht wähnenden Obrigkeit, welche sich für die Ordnung zuständig sieht – hätte eine bedeutend grössere Dramatik für die Inszenierung hergegeben und hätte sich auch viel intensiver darstellen lassen.

Schade, dass man im Film eine bildlich dargestellte „Zeitungsente“ nach 140 Jahren auf diese Weise zementiert.

Trotzdem: Die Filme sind die Zeit wert, sie sich anzuschauen.