ETR 610 für den Nord-Süd Verkehr werden aufgerüstet und revidiert.
Zum Nachtrag

Nachdem die SBB ihre ETR 470, die Pendolini der ersten Generation (Cisalpino AG), auf den Fahrplanwechsel 2014 aus dem Verkehr zurückgezogen haben, verbinden nun vorwiegend die Neigezüge des Typs ETR 610 die Schweiz via Gotthard und Simplon mit Mailand.

Für die Fahrten durch den Gotthard-Basistunnel ab dem Fahrplanwechsel am 11. Dezember 2016 sollen die 19 SBB-Neigezüge ETR 610 aufgerüstet und revidiert werden.
Insbesondere die sieben ab 2007 beschafften Fahrzeuge der ersten Serie werden nun hinsichtlich Technik und Komfort an die zwölf Züge der zweiten Serie angeglichen, womit die gesamte ETR 610 Flotte vereinheitlicht wird.

Dabei erhalten alle ETR 610 grössere Gepäckablagen, eine Familienzone sowie modernere Toiletten. Für die Lokführer wird eine Rücksehkamera installiert.
Um die künftig in Italien geltenden Brandschutzvorschriften einzuhalten, muss eine Brandunterdrückungsanlage eingebaut werden.
Alle 19 Fahrzeuge werden zudem revidiert und erhalten neue Signalverstärker und die Ausrüstung für WiFi, um das Surfen und Telefonieren auch auf internationalen Strecken zu verbessern.

Die SBB hat entschieden, die von 2017 bis 2020 anstehenden Revisionen und die Aufrüstung aus Zulassungsgründen durch Alstom (Savigliano Italien) durchführen zu lassen.
Insgesamt investiert die SBB rund 80 Millionen Franken für diese Arbeiten.
Quelle: Pressestelle SBB

Themenbild Ein ETR 610 auf der Fahrt nach Mailand
Kommentar:

Der Einsatz der ETR 610 im Gotthard-Basistunnel (GBT) ist problembehaftet.

Das Bundesamt für Verkehr (BAV) hat nämlich am 14. Januar 2014 der SBB-Spitze erklärt, dass sie das seit 2004 geltende Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) und die entsprechenden Ausführungsbestimmungen verletzt, wenn die ETR 610 durch den neuen Gotthard-Basistunnel fahren sollten.
Behinderte können im ETR 610 nicht alleine ein- und aussteigen, da kein Niederflureinstieg vorhanden ist.

Nun stellt sich die Frage:
Wieso kann der ETR 610 auf der Simplonstrecke unbehelligt fahren, erhält aber für den Gotthard-Basistunnel keine Bewilligung?
Der Grund liegt darin, dass Neigezüge, welche aus technischen Gründen den autonomen Zustieg (Zugang auch für Handicapierte) nicht ermöglichen, dann eingesetzt werden können, wenn zur Verkürzung der Fahrzeiten, der Einsatz von Neigetechnik unvermeidlich ist.
Der Zeitgewinn wird also im Gesetz höher gewichtet als eine autonome Zugangsmöglichkeit für Behinderte.
Fällt dieser Zeitgewinn aber weg, bekommt der ETR 610, laut BAV, keine Betriebsbewilligung.

Auf der Simplonstrecke hat der ETR 610 eine kurvenreiche Fahrt, bevor er den Tunnel erreicht. In diesen Kurven erlaubt die Neigetechnik, schneller zu fahren - und Zeit einzusparen.
Im neuen Gotthard-Basistunnel fällt dieser Anfahrtsweg weg, und der Einsatz von Neigetechnik ist deshalb nicht nötig, da sie keine Zeitersparnis bringt.
Dies bestätigen die SBB indirekt selbst, verzichtet doch die Bestellung der GBT-Züge bei Stadler-Rail auf den Einsatz von Neigetechnik.

Die Lösung liegt wie immer im Kompromiss,
oder aus Sicht der Behindertenorganisationen, in einer zeitlichen Ausgrenzung Behinderter bei der Fahrt durch den GBT.

In seiner Antwort auf eine von Nationalrat Regazzi Fabio am 12.03.2014 eingereichte Interpellation bestätigt der Bundesrat am 20. 6. 2014 den oben dargelegten Sachverhalt, hält aber in der Beantwortung der Frage 2 zum Ersatz der ETR 470 durch die ETR 610 fest: „… Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die bestehenden und die im Jahr 2014 in Betrieb zu nehmenden ETR-610-Kompositionen als besondere Fälle zu betrachten sind, da die Neigetechnik für die Einhaltung des Fahrplans auf der Gotthard-Bergstrecke unverzichtbar ist.„ (kurvenreiche Bergstrecke = Zeitgewinn dank Neigetechnik)
Weiter weist er aber auch darauf hin: „Mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels gibt es keinen Grund mehr, in Zukunft für die Gotthardstrecke weitere Neigezüge zu beschaffen.“
In der Beantwortung der Frage 3 hält er zudem fest: „… Das Pflichtenheft der Ausschreibung für die 29 Züge (Ausschreibung GBT-Züge Red.) schreibt vor, dass das neue Rollmaterial den Anforderungen des BehiG entsprechen muss.
Aus den unter der Antwort zu Frage 2 dargelegten Gründen können die ETR-610-Züge im Rahmen der Ausschreibung nicht berücksichtigt werden.“

Nun stünden BAV und SBB vor einer unlösbaren Situation:
  • Der Einsatz der ETR 610 im GBT sind gemäss BAV nicht möglich, da dieser gegen das BehiG verstösst.
  • Die SBB haben keine anderes Rollmaterial, das die Geschwindigkeits-Anforderungen der Personenzüge im GBT erfüllt.

Deshalb öffnen Bundesrat und BAV in der Interpellations-Antwort (auf Kosten der Behinderten) den SBB ein Hintertürchen:
„4. Wie in der Antwort zu Frage 3 ausgeführt, schreibt das Pflichtenheft der Ausschreibung vor, dass das neue Rollmaterial den Anforderungen des BehiG entsprechen muss. Was die derzeit auf der Gotthardachse verkehrenden Züge, die die Anforderungen eines autonomen Zugangs nicht erfüllen, betrifft, beabsichtigt das BAV, bei der Erneuerung der Betriebsbewilligung von Fahrzeugen für den Einsatz im Nord-Süd-Verkehr einen Mindeststandard für den autonomen Zugang zu Fahrzeugen mit einem Zeithorizont bis 2020 festzulegen.“

Somit ist die Welt wieder in Ordnung und die SBB-Spitze kann getrost weitere rechtzeitige Fahrzeugbestellungen verschlafen. Externe Hilfe ist ihr gewiss.