Am 16. April 2012 hatten die SBB für den Nord-Süd Verkehr die Beschaffung
von 29 einstöckigen Hochgeschwindigkeitszügen von 200 m Länge mit Betriebsbewilligung für die
Schweiz, Deutschland, Österreich und Italien öffentlich ausgeschrieben.
Auf die Ausschreibung (Siehe News: Die SBB schreiben zukünftige Fahrzeuge für den Gotthard aus) bewarben sich die vier Rollmaterialhersteller Alstom, Siemens, Stadler Rail und Talgo um die Lieferung jener Züge,
welche ab 2016 durch den neuen Gotthard-Basistunnel rollen sollen.
Seither warteten die Offertsteller auf eine Entscheidung der SBB.
Mitte Dezember hat nun der SBB-Verwaltungsrat einen Antrag der Geschäftsleitung gutgeheissen, den 800-Millionen-Franken-Auftrag keinem der Anbieter zu vergeben.
Stattdessen will die SBB-Spitze, auf Züge des Typs ETR 610 von Alstom setzen.
Einige davon sind aus der Zeit der Cisalpino-AG bereits vorhanden. Neben diesen sieben Triebzügen, welche zur Zeit auf der Simplon-Linie im Einsatz sind, bestellten die SBB 2012 bei Alstom Italia weitere acht Neigezüge des Typs ETR 610 für den Nord-Süd-Verkehr auf der Gotthard-Bergstrecke.
Weitere zusätzliche Züge desselben Typs wollten die SBB von der italienischen Staatsbahn FS zumieten.
Diese Züge waren ursprünglich ab 2014 als Ersatz für die schadhaften Neigezüge ETR 470 vorgesehen. (Siehe
News: Die SBB bestellen den Gotthard weitere ETR 610)
Diese Wahl der ETR 610 ist zwar kein Entscheid für ein neues Modell, dafür aber aus Sicht der SBB-Fürhung ein „sicherer“ Wert in Hinblick darauf, dass die Sache langsam eilt.
Doch so weit kommt es - zumindest vorerst - nicht.
Mit einem am 14. Januar 2014 publizierten Entscheid machte das Bundesamt für Verkehr (BAV) die Pläne der SBB-Spitze zunichte. Die SBB dürfen die ETR 610 nicht durch den Gotthard-Basistunnel einsetzen.
Der Grund: Das BAV sieht das Behindertengleichstellungsgesetz verletzt, wenn die ETR 610 durch den neuen Gotthard-Basistunnel fahren sollten. Behinderte können nämlich im ETR 610 nicht alleine ein- und aussteigen, da kein Niederflureinstieg vorhanden ist.
Doch wie ist das möglich?
Auf der Simplon-Strecke fahren die ETR 610 doch auch im Internationalen Verkehr!
Ganz einfach: die SBB-Führung hat aus dem Bombardier-Flopp nichts gelernt.
Das BAV begründet seinen Entscheid so:
«Neigezüge, welche aus technischen Gründen den autonomen Zustieg nicht ermöglichen, können nur eingesetzt werden, wenn aus Gründen der Fahrzeiten Neigetechnik unvermeidlich ist.»
Heisst im Klartext:
Wenn die Neigetechnik des ETR 610 hilft, viel Zeit einzusparen, dann wird dies höher gewichtet als eine autonome Zugangsmöglichkeit für Behinderte.
Am Simplon hat der ETR 610 eine kurvenreiche Strecke, bevor er den Tunnel erreicht. Der Zug kann also Zeit einzusparen.
Am Gotthard fällt diese kurvenreiche Anfahrtsstrecke weg.
Deshalb bekommt der ETR 610 am Gotthard keine Betriebsbewilligung.
Und um der SBB-Führung aufzuzeigen, wohin ihre Überlegungen hätten gehen sollen, schreibt das BAV auch noch: «Im Hinblick auf die Eröffnung der durchgehenden Gotthardbasisstrecke lässt sich der Einsatz von Neigezügen nur schwer rechtfertigen».
Die drei anderen Rollmaterialhersteller, die nun wieder im Rennen um die 29 Hochgeschwindigkeitszüge für die Nord-Süd-Achse sind, dürften sich über die Aussagen des BAV freuen. Ihre Chancen sind wieder gestiegen.
Dass die SBB keinem der vier Anbieter den Zuschlag erteilen, ist wohl kaum zu erwarten, denn eine solche Nichtberücksichtigung aller Anbieter wäre eine Brüskierung der Rollmaterial-Industrie und ist schlichtweg undenkbar.
Die Ausarbeitung ihrer Offerten hat die Rollmaterialhersteller viel Geld gekostet.
Sie halten sich dazu zwar bedeckt, aber bei Stadler Rail spricht man davon, dass diese Offert-Stellung rund 12 Millionen Franken gekostet habe.
Zwar steht diese Zahl im Verhältnis zu einem Auftragsvolumen von 800 Millionen Franken,
allerdings dürften drei der Anbieter leer ausgehen.
Mit neuen Anbietern wieder bei Null anzufangen, können sich die SBB schon aus zeitlichen Gründen gar nicht leisten.
Die für den NEAT-Betrieb ab 2016 angedachten Notlösungen mit Pendelzügen aus EW IV, ziehen vom restlichen Netz so viel Rollmaterial ab, dass die jetzt schon mit Rollmaterial unterdotierten SBB zusätzlich in arge Bedrängnis kommen.
Die SBB versuchen zu beruhigen: «Das Ausschreibungsverfahren für die Rollmaterial-Flotte im Nord-Süd-Verkehr ist wie geplant noch nicht abgeschlossen - die SBB haben keinen Entscheid gefällt.», ein Entscheid werde aber in der ersten Jahreshälfte fallen.
Die Ursache für ihren Nicht-Entschied schieben die SBB den Offert-Stellern in die Schuhe und begründen ihn damit, dass keiner der Anbieter ein Standardprodukt offeriert habe.
Eine geradezu lächerliche Argumentation, denn schliesslich hat man ja entsprechende Vorgaben gemacht, die auf kein Produkt „ab der Stange“ zutraf. (Siehe
News: Die SBB schreiben zukünftige Fahrzeuge für den Gotthard aus)
Nach der bereits verspätet erfolgten Ausschreibung, wird nun also der Entscheidungszeitpunkt weiter nach hinten verschoben.
Die auf die Schnelle produzierte Ersatzlösung mit den ETR 610 wäre einmal mehr auf dem Rücken der Kunden ausgetragen worden.
Der ETR 610 mag zwar zuverlässiger sein, als die katastrophalen ETR 470, ein angenehmes Fahrzeug
für die Fahrgäste ist aber auch er nicht.
Es geht nicht nur um behinderte oder ältere Fahrgäste. Denn auch Junge und solche mit schwerem Gepäck haben Mühe mit den engen, steilen Einstiegen und den ungenügenden Gepäck-Ablagemöglichkeiten.
Nur gut hat das BAV diese Schnapsidee nun beerdigt hat.
Ich frage mich überhaupt, weshalb die SBB-Führung sich so schwer tut mit einem Entscheid zu Gunsten von StadlerRail.
Nach den schlechten Erfahrungen mit Alstom, Siemens und Bombardier wäre es doch naheliegend, auf jenen Hersteller zu setzen, welcher die Schweiz als Eisenbahnnation repräsentiert und im In- und Ausland längst bewiesen hat, dass er im Stande ist, zuverlässige Eisenbahnfahrzeuge zu bauen.
Käme noch hinzu, dass die Wertschöpfung grösstenteils in der Schweiz bliebe.
Das wäre wahre Wirtschaftsförderung.