Der Gotthard-Bergstrecke droht ein touristisches Debakel

Ich habe nun lange zu diesem Thema geschwiegen. Grund hierfür waren die mannigfaltigen Fronten, an denen Äusserungen hierzu gemacht wurden. Wobei dabei ausser viel Wunschdenken und unerfüllbarer (Politiker-)Versprechen kaum Handfestes kommuniziert wurde.
Dies hat sich in der Zwischenzeit insofern geändert, dass in den letzten Wochen zu diesem Thema einige Eckdaten an die Öffentlichkeit gelangt sind, welche nun tatsächlich eine situative Abschätzung zulassen.
Deshalb hier einige Gedanken zu diesem Thema:

Die SBB haben am 9. August einige Eckdaten zum Angebotskonzept im Personenverkehr ab dem 11. Dezember 2016 durch die Gotthard- und Ceneri-Basistunnel und über die Gotthard-Stammstrecke vorgestellt.
Es ist immer traurig, wenn man negative Prognosen gemacht hat, und dann sagen muss/kann: „Meine Einschätzung war richtig!“.
Was ich hier bereits in verschiedenen Newsmeldungen als Befürchtungen geäussert habe, bestätigt sich leider immer mehr.

Der zukünftige Zugsverkehr
Gemäss SBB-Konzept wird die Bergstrecke ihre InterRegio verlieren und zur S-Bahnlinie degradiert. Die bisherigen stündlichen IR nach Locarno entfallen ab Erstfeld ganz.
Nach aktueller Planung der SBB werden nach der Betriebsaufnahme im Basistunnel die IR stündlich abwechselnd ab Basel - Luzern und Zürich in Richtung Gotthard fahren, aber in Erstfeld enden.
Die Reisenden müssen dort umsteigen auf einen in Bellinzona beheimateten Flirt der TILO. (Tessiner S-Bahn) Diese wurden durch die SBB bereits bestellt.
Diese S-Bahn bedient nun die Strecke Erstfeld –Chiasso. An den Zustiegsmöglichkeiten ändert sich (konzessionsbedingt) nichts. Die bisherigen IR-Halte werden übernommen (Göschenen, Airolo, Faido, Biasca, Bellinzona, Lugano). Am Wochenende sollen einzelne direkte Züge von Norden bis Göschenen verkehren.

Fazit:
Die SBB sind sich des touristischen Potentials der Gotthard-Bergstrecke nach wie vor nicht bewusst.
Sie zwingen die Reisenden zu rein betriebswirtschaftlich begründetem Umsteigen.
Dass sie beabsichtigen dafür stehplatzoptimierte S-Bahn-Fahrzeuge mit vielen unnötigen Türen und für lange Fahrten ungeeigneten, unbequemen Sitzplätzen einzusetzen, beweist einmal mehr die von der SBB-Führung zwar immer beschworene, aber über weite Strecken nicht vorhandene Kundennähe der SBB.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass bis 2019 durch den Basistunnel alle 2 Std. die Züge Zürich – Mailand verkehren. Ab 2020 (Eröffnung Ceneri Basistunnel) sollen die Züge nach Milano stündlich fahren.
Dass die SBB die Kombination aus EC und IR/S-Bahn als schnellen Halbstundentakt zwischen der Deutschschweiz und dem Tessin verkaufen, überrascht wohl niemanden.
Die Tessinischen Talbahnen (historische Bezeichnung von 1874) sollen nach der Eröffnung des Ceneri Basistunnel auf der Verbindung Locarno – Bellinzona – Lugano (Chiasso) einen Halbstundentakt erhalten.

Der Kantonalbahnhof Uri
Weshalb die Züge nach Erstfeld fahren, und der Übergang nicht im von der Urner-Regierung seit Längerem propagierten Kantonsbahnhof Uri in Altdorf erfolgt, wissen wohl nur die Planer der SBB.
Dieser Kantonalbahnhof wird derzeit von der Urner-Regierung und den Gemeindebehörden Altdorfs den Urnern als zukünftige ÖV-Drehscheibe im Kanton schmackhaft gemacht.

Damit wird allerdings eine historisch gewachsene, bestens funktionierende ÖV-Struktur mutwillig zerstört.
Seit der Eröffnung der Gotthardbahn 1882 orientiert sich der ÖV im Urner Talboden nach dem Bahnhof Flüelen. Das Untere Reusstal (Erstfeld,Silenen, Amsteg, teilw. Gurtnellen) benutzt den Bahnhof Erstfeld als Übergang auf die Bahn; Gurtnellen, Wassen, Göschenen und das Urserntal orientieren sich zum Bahnhof Göschenen.
Diese historisch gewachsene Struktur soll nun, zumindest für den Talboden und das Untere Reusstal durch die Lancierung dieses "Kantonalbahnhofs" zerstört werden.
Der Hintergrund für die Propagierung dieses Kantonalbahnhofs in Altdorf lässt sich durchaus historisch erklären:
Als Robert Gerwig, als Oberingenieur der Gotthardbahn, die Strecke 1864 plante, wurde selbstverständlich der Hauptort Altdorf mit einem Bahnhof mitten im Dorf bedacht.

Themenbild Geplante erste Linienführung auf dem Plan von 1864

Im Rahmen der Finanzkrise der Gotthardbahn und der damit einhergehenden Redimensionierung wurde auch die Strecke Flüelen – Erstfeld geändert. Um kostspielige Bahn-Kilometer zu sparen, wurde die Strecke begradigt. Dadurch kam der Bahnhof Altdorf aufs freie Feld zu liegen, rund einen Kilometer vom Dorfzentrum weg.
Hiermit verlor der Bahnhof auch seinen Hauptortstatus und wurde zur Station 2. Klasse heruntergestuft.
Die Gemeindebehörden von Altdorf und die Urner Regierung waren empört, allerdings konnten sie der Argumentation der Gotthardbahn-Direktion, dass Schwyz, aus topografischen Gründen, als Hauptort auch keinen Bahnhof erhalte, nichts entgegensetzen und mussten die bittere Pille wohl oder übel schlucken.
Zwar haben die Altdorfer die neue Verbindungsstrasse zwischen Dorfkern und Station demonstrativ „Bahnhofstrasse“ getauft, aber die Station war, ab der Betriebsaufnahme 1882 bis heute, immer nur eine unbedeutende Haltestelle für Regionalzüge und S-Bahnen.
Mir scheint, dass gewisse Kreise in Altdorf das bis heute nicht verkraftet haben. Sonst hätte man nicht im Rahmen der NEAT-Realisierung angefangen, diesen Kantonalbahnhof Uri in Altdorf zu propagieren. Oder wollte man sich einfach nur ein Denkmal setzen?
Wirklich vernünftige Gründe hierfür gibt es nämlich nicht. Im Gegenteil. Man würde mit einem solchen Bahnhof die Bedeutung der heutigen ÖV-Drehscheiben Flüelen und Erstfeld beschneiden.
In Flüelen hätte dies zudem den Effekt, dass die SGV (Schifffahrtsgesellschaft Vierwaldstättersee) die bisherige Übergangmöglichkeit ihrer Passagiere auf die Schnellzüge der SBB verlieren würde.
Weshalb sich die SGV nicht schon längst vehement gegen diesen Abbau wehrt, ist mir rätselhaft.
Ausser einer Genugtuung für einige Urner Politiker(innen)-Herzen ist dieser Kantonalbahnhof keine erstrebenswerte Lösung.
Dies haben wohl auch die SBB so gesehen, sonst hätten sie den für die NEAT-Zufahrt fit gemachten Bahnhof Altdorf, wohl von Anfang an auf dieses Ziel hin ausgebaut.
Dem ist keineswegs so, denn die neuen Perrons haben lediglich S-Bahntaugliche Längen erhalten.

Lange Zeit wurde von Politikern den Urnern vorgegaukelt, sie erhielten nach der Betriebsaufnahme der NEAT Zugang zu den ECs durch den Basistunnel.
In der Zwischenzeit haben sich die entsprechenden Formulierungen geändert. Nun ist nur noch die Rede von IR-Halten und von ECs, welche aus Richtung Süden kommend, zu bestimmten Zeiten Halt im Bahnhof Altdorf machen würden. (Aus Richtung Norden hätten die ECs bei einem Halt in Altdorf die bei der Einfahrt in den NEAT-Tunnel notwendige Geschwindigkeit noch nicht erreicht. Aus diesem Grund wollen die SBB solche Halte möglichst verhindern.)
Wie stark die Gemeinde Altdorf selber an das um „ihren“ Kantonalbahnhof aufgebaute Überbauungskonzept glaubt, zeigt die Tatsache, dass man nicht einmal bereit war, die Erweiterung der zum S-Bahnperron führenden Unterführung um einen Aufgang in das geplante Bahnhofsgebiet Altdorf-West, gleich beim Bau der neuen Unterführung zu realisieren.
Wie bereits in früheren News von mir geäussert, hätte sich die Urner Politik wohl besser für den Erhalt eines touristisch wirksamen Zugsverkehrs auf der Bergstrecke und den Zufahrten, mit anständigem Rollmaterial, statt für einen unnötigen Kantonalbahnhof Uri mit kaum erhältlichen EC-Halten engagiert.

Es gibt einen Lichtblick
Dank der SOB (Schweizerische Südost-Bahn) kommt die Gotthard-Bergstrecke vielleicht doch noch zum erwünschten Fahrkomfort über die Stammlinie.
Heute gehört die Gotthard-Bergstrecke zur Fernverkehrskonzession der SBB. Diese läuft Ende 2017 aus, weil sich durch die Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels auf der Bergstrecke eine völlig veränderte Ausgangslage ergibt. Dies hat Auswirkungen auf den Trassenbedarf, wodurch sich auch der Charakter dieser IR-Linie ändert.
Das BAV (Bundesamt für Verkehr) führt deshalb auf den Zeitpunkt des Fahrplanwechsels im Dezember 2017 ein Konzessions-Änderungsverfahren durch.
Dasselbe gilt auch für die Linie Bellinzona – Locarno, welche ebenfalls Bestandteil der aktuellen Fernverkehrskonzession der SBB ist.
Zwar macht das BAV keine offizielle Neu-Ausschreibung der Konzession, aber interessierte Bahngesellschaften können trotzdem ihre Offerten einreichen.

Scheinbar ist eine Prüfung der Rentabilität durch die Führung der SOB positiv ausgefallen und sie hat sich um eine entsprechende Konzession beworben.
Sie schlägt dem BAV vor, den Voralpen-Express Romanshorn (St. Gallen) – Arth-Goldau – Luzern nicht mehr nach Luzern zu führen, sondern ihn in Arth-Goldau zu stürzen und dann über die Bergstrecke weiter nach Bellinzona zu führen.

Der Grund für die Aufgabe der Strecke Arth-Goldau – Küssnacht – Luzern durch die SOB liegt darin, dass der Voralpen-Express auf diesem Streckenabschnitt zur Zeit nicht mehr ein „Express“ ist, sondern als S-Bahn funktioniert.
Weil der Verkehrsverbund Luzern auf der Strecke Luzern – Küssnacht – Arth-Goldau künftig einen sauberen S-Bahn-Halbstundentakt haben will, kann der Voralpen-Express diese S-Bahn-Funktion nicht mehr übernehmen. Aus diesem Grund will Luzern auf diesem Abschnitt den VAE nicht mehr bestellen.
Zudem würden die Kantone Luzern, Schwyz und St. Gallen ab 2014 den Voralpen-Express als SOB-Produkt gemeinsam bestellen, was die Abgeltung des Kantons Luzern erhöhen würde.
Dem Kanton Luzern scheint dies aber zu teuer zu sein. Denn obwohl der Voralpen-Express als IR abgeltungsberechtigt ist, deckt er seine Kosten lediglich zu knapp drei Vierteln.
Das ab Dezember 2014 geplante neue Betriebskonzept der SOB zwischen St. Gallen und Luzern, mit neuen Kompositionen, wird höhere Betriebskosten generieren, wodurch der Kostendeckungsgrad noch tiefer sinken wird.

Themenbild Der Voralpen-Express an der Rigilehne unterwegs. Schon bald Vergangenheit?

Um die Produktionskosten des Voralpen-Express pro km zu senken und damit den Kostendeckungsgrad zu verbessern, möchte die SOB dessen Streckennetz ausdehnen.
Da der Personenverkehr auf der Gotthard-Bergstrecke teilweise weiterhin abgeltungsberechtigt (Mischfinanzierung durch SBB Fernverkehr und Abgeltungen) sein wird, ist eine Verlängerung des Voralpen-Express über den Gotthard für die SOB durchaus finanziell interessant.

Inzwischen scheint das BAV auf das Konzessionsgesuch der SOB reagiert zu haben.
Wie die «Ostschweiz am Sonntag» in einem Artikel berichtet, soll allerdings aus der Konzessionserteilung nichts werden.
In einem Brief des Bundesamtes für Verkehr (BAV) an die SOB kritisiere das BAV das geplante SOB-Konzept. Zu viele Fragen blieben offen.
Unklar seien im Konzept etwa die Prognosen der zu erwartenden Passagierfrequenzen und die damit verbundenen Einnahmen. Auch fehlten die Angaben zu den Kosten, welche für den Bund und die Kantone entstünden.
Moniert werde durch das BAV auch, dass die Fahrpläne und damit die Umlaufzeiten für das Rollmaterial nicht optimal seien, was die Kosten ebenfalls erhöhe.
Was das BAV ebenfalls störe, seien die fehlenden Anschlüsse in den Endstationen.
Das grösste Hindernis wittere das BAV aber bei der vorhandenen Konkurrenz: Eine Verlängerung ab Arth-Goldau und Bellinzona in die Zentralschweiz oder ins Tessin sei gemäss BAV zwar wünschbar; sei aber wegen der Dominanz der SBB in diesen Regionen nur schwer realisierbar.
Das BAV komme deshalb zum Schluss, dass das SOB-Angebot gegenüber jenem der SBB keinen Mehrwert schaffe.

Als Bahninteressierter reibe ich mir bei solcher Argumentation des BAV nur verwundert die Augen. Dieses hat aus meiner Sicht keinen SBB-Heimatschutz zu betreiben, sondern den für die Fahrgäste besten Lösungsvorschlag zu konzessionieren.
Das SOB-Angebot sieht einen Regio-Express pro Stunde von Arth-Goldau nach Bellinzona vor. Das Rollmaterial-Konzept würde an den Voralpen-Express angelehnt worden.
Die Planer der SOB denken dabei durchaus auch an eine Verlängerung der Verbindung bis Locarno im Süden, sowie nach Luzern und Zürich im Norden.
Der SOB bereits jetzt vorzuwerfen, sie gewähre mit ihrem Konzept, insbesondere in Bellinzona, die Anschlüsse nicht, entbehrt jeglichen Hintergrundes.
Schliesslich muss das BAV ja auch die Konzession auf den Tessinischen Talbahnen und auf der Cenerilinie neu vergeben. Es läge somit ja auch in den Händen des BAV, entsprechende Vorgaben an einen anderen Konzessionär (SBB/TILO) zu machen und damit die Anschlüsse zu gewährleisten.
Auch besteht durchaus noch die Option für die SOB, das Angebot über Bellinzona hinaus nach Locarno zu verlängern.
Von der SOB zu erwarten, dass sie auch im Norden parallel zum bestehenden IR- und S-Bahn-Betrieb der SBB weitere Züge anbietet, ist geradezu absurd.
Ich empfehle hier den Entscheidungsträgern im BAV das Studium der Geschichte des „Nationalbahn-Debakels“ Ende des 19. Jahrhunderts.

Themenbild Bereits früher erbrachte die SOB Zugsleistungen in Uri

Die Urner haben aus früherer Zeit durchaus positive Erinnerungen an die SOB.
Über einige Jahre führten nämlich die SOB einige durch die Urner-Regierung bestellte Regionalzüge nach Erstfeld. Dabei hatte die SOB immer ein offenes Ohr für die Anliegen der Urner.

Ich persönlich würde mich nur schon deshalb über einen Einsatz der SOB am Gotthard freuen, weil Konkurrenz die SBB zwingen würde, ihr aktuelles Konzept nochmals zu überprüfen.
Bahn-Reisende wollen ihr Ziel ohne vielfaches Umsteigen erreichen.
Das SBB-Konzept will Direktverbindungen über die Gotthard-Bergstrecke ab 2016 aufheben und zwingt alle Reisenden, welche die touristisch wertvolle Stammstrecke befahren wollen, in Erstfeld umzusteigen.
Das kann nicht die Lösung sein.

Es wäre dringend nötig, dass die Urner-Regierung endlich entsprechende Erwartungen oder gar Forderungen an das BAV und damit an die zukünftigen Konzessionäre formulieren würde.