Die SBB bestellen für den Gotthard weitere ETR 610

Am Donnerstag, 2. August 2012 haben die SBB an einer Presseinformation im VHS Luzern offenbart, wie sie den Personenverkehr auf der Gotthardachse in Zukunft gestalten wollen.

Als oberstes Ziel nannte CEO Andreas Meier die Absicht, „im Fernverkehr auf der Gotthardroute zwischen Zürich und Basel im Norden, sowie Mailand im Süden endlich Pünktlichkeit nach Schweizer Standard zu erreichen“.

Mit den heute im Einsatz stehenden, von Anfang an schadhaften und pannenanfälligen Neigezüge ETR 470, ist dies nicht möglich.

Themenbild ETR 470 "Pendolino" der Cisalpino AG kurz nach seiner Inbebriebsetzung.

„Man habe den Kundinnen und Kunden bisher im Nord-Süd-Verkehr auf der Gotthard-Achse nicht die gewünschte Qualität anbieten können“.
Hinter dieser Aussage steht die Tatsache, dass die 1993 von SBB und Trenitalia ins Leben gerufene Tochtergesellschaft Cisalpino AG auf Grund ständiger Pannen und Verspätungen der Pendolini für Negativschlagzeilen gesorgt hatte.
Nach mehreren Fahrzeugbränden und dem Liegenbleiben eines ETR 470 im Lötschbergtunnel hatten die SBB Ende 2009 die Nase voll und beendeten die Zusammenarbeit mit Trenitalia, und die Cisalpino AG stellte ihre operative Tätigkeit ein.
Aus dem „Erbe“ übernahmen die SBB vier der Pannenzüge ETR 470 und versuchten mit teuren Revisionen und Überarbeitungen die Züge am Fahren zu halten.

Themenbild Ein von den SBB revidierter ETR 470 auf der mittleren Meienreussbrücke bei Wassen.

Da allerdings auch die Trenitalia einige ihrer Züge auf der Gotthardachse stellt, blieb das Problem bestehen.
Deshalb haben die SBB in die „Trickkiste“ gegriffen und lassen derzeit zwischen Zürich und Lugano zusätzlich zu jedem Eurocity Neigezug (ETR 470) einen Intercity Neigezug (ICN) verkehren, womit sämtliche Kurse doppelt geführt werden.
Dies kann allerdings keine dauerhafte Lösung sein, denn sie ist teuer, und blockiert Triebzüge, die anderweitig bedeutend besser eingesetzt werden könnten.
Nun ist der Entscheid gefallen: Die pannenanfälligen Züge des Typs ETR 470 sollen Ende 2014 ausrangiert werden.

Die Frage war nun, wie die Lücke zwischen der 2014 vorgesehenen Ausserbetriebnahme der schadhaften Neigezüge ETR 470 und der Inbetriebnahme des Gotthardbasistunnels 2016 gefüllt werden soll.
Die SBB haben sich für eine Kompromisslösung zwischen Aufwand, Ertrag und Qualität entschieden:
Sie lösen eine Option aus der ersten Beschaffung von ETR-610-Zügen der Cisalpino AG aus dem Jahr 2004 mit der Firma Alstom ein und bestellen bei Alstom Italia acht Neigezüge des Typs ETR 610 für den Nord-Süd-Verkehr am Gotthard.
Der Preis für die Neuanschaffung beträgt rund 250 Millionen Franken. Die siebenteiligen Züge des Typs ETR-610 bieten 430 Personen Platz.
Diese neuen Neigezüge sollen also ab 2015 über den Gotthard verkehren.
Aus der Zeit der Cisalpino-AG besitzen die SBB bereits sieben Triebzüge dieses Typs.

Bei der Inbetriebnahme des ETR-610, die dank einer Neigeeinrichtung Kurven schneller befahren können und eine Geschwindigkeiten von 250 km/h erreichen, war es allerdings zu erheblichen Komplikationen gekommen.

Themenbild Monatelang wurden am Gotthard mit einem ETR 610 in der Grund-Lackierung Testfahrten durchgeführt.
Die neuen Züge waren wegen technischer Probleme erst 2009 und damit rund zwei Jahre später als geplant zum Einsatz gekommen. Dies allerdings ausschliesslich auf der Simplonstrecke. Der geplante Einsatz auf der Gotthard-Strecke verzögert sich bis heute.
Themenbild Auch nach der Abnahme durch die SBB, erfolgten weitere Test- und Homologierungsfahrten am Gotthard.
 Bild: André Niederberger

Grund hierfür ist die Tatsache, dass die Züge zu schwer sind, und deshalb vom Bundesamt für Verkehr BAV keine Zulassung für bogenschnelles Fahren auf den engen Radien der Gotthardstrecke erhalten haben.
Mit einigen Tricksereien wollten die SBB dieses Manko, am Gotthard nur mit der Streckengeschwindigkeit eines „normalen“ Zuges (80 km/h) fahren zu können, ausgleichen. Deshalb sollte auf bestimmten Streckenabschnitten die maximale Höchstgeschwindigkeit angehoben werden, um so einen zeitlichen Ausgleich zu schaffen.

Scheinbar sind die Verantwortlichen bei den SBB inzwischen zur Vernunft gekommen.
Man passt für den Einsatz der ETR 610 den Fahrplan den Möglichkeiten der Züge an. Statt wie heute für die Fahrzeit Zürich–Mailand mit 3 Stunden 41 Minuten zu planen, rechnet man nun mit 3 Stunden und 58 Minuten.
Bei den SBB tönt die Begründung allerdings etwas anders: „Vorgesehen ist eine Entspannung des in einem zu engen Korsett steckenden Fahrplans der mit Neigeeinrichtung verkehrenden internationalen Gotthardzüge.“

Es bleibt die Frage, wie zuverlässig die ETR 610 inzwischen sind.
Laut den SBB sind die ETR 610 auf den Strecken Genf/Basel – Simplon – Mailand nach der Eliminierung von Kinderkrankheiten zuverlässig unterwegs. „Heute sei man aufgrund der bereits gemachten Erfahrungen optimistisch, die acht bestellten Züge wie geplant Anfang 2015 auf der Gotthard-Achse ohne Probleme einsetzen zu können“.

Themenbild Auch im SBB-Design machten ETR 610 wieder Testfahrten am Gotthard.

Dies kann durchaus so sein, denn die von Trenitalia übernommenen ETR 610 werden zur Zeit im Italienischen Binnenverkehr eingesetzt, und gelangen nicht in die Schweiz.

Generell ist offen, ob ab 2014 weiterhin auch italienische Züge in die Schweiz verkehren.
Um das „Pannolino“-Debakel in Zukunft zu vermeiden, streben die SBB eine Vereinbarung mit Trenitalia an, die den Einsatz qualitativ hochwertiger italienischer Kompositionen gewährleisten soll.

Wo die nun als Übergangslösung zusätzlichen acht ETR 610 dereinst eingesetzt werden sollen, ist offen. Falls die Züge bis dann die entsprechenden Zulassungen erhalten haben, wären Einsätze nach Stuttgart oder München denkbar.
Möglich wäre aber auch ein Einsatz im Inland.