Der Nachtzug

Isabella Keiser

Bedächtigen Schrittes trat er den Rückweg an, die Dienstmütze tief in die Stirne gedrückt. Die Pfeife war ihm ausgegangen.
Vom Rofajen herunter blies der Winter-Föhnsturm mit Schnee auf den Vierwaldstättersee herab.
"Ist das ein Hundewetter!" knurrte er in den struppigen, vereisten Bart hinein.
Der Schein der Laterne hüpfte wie ein Irrlicht über das Bahngeleise.

Tag für Tag beging er seit Jahren dieselbe Strecke der Axentrasse. Er kannte jeden Markstein, jeden Felsen, jeden Baum im dunkeln Tann und versah seinen Dienst mit peinlicher, gedankenloser Genauigkeit.
Sonst war er ein blöder Geselle, der Nidwaldner Domini Selm, einsilbig und menschenscheu, zu nichts anderem zu gebrauchen, als vor seinem Bahnwärterhäuschen zu stehen mit der geschlossenen Fahne, wenn die Gotthardzüge vorbeirasten. Sie bildeten die lebendigen Augenblicke seines Daseins.
Woher sie kamen, wohin sie gingen, und was sie in blinder Hast mit sich trugen - was ging's ihn an? Seine Bahnstrecke zwischen Sisikon und Brunnen, das war seine Welt; die musste frei liegen. Das war der Dienst; darin gipfelte seine ganze Weisheit.
Er schritt über die Bahnbrücke. Der Milchbach sprang donnernd vom wilden Tobel im Voralptal. Die eisernen Bogen bebten unter dem Anprall der vom Sturm geschwellten Fluten.
Der Selm beugte sich und stemmte sich gegen die Gewalt des Windes, der sich ihm wie ein Feind in den Weg legte.
Er blickte sich nicht um, die Bahn lag frei; für heute war der Dienst aus. Es ging gegen Mitternacht; ihn verlangte heim nach dem langen Spiessrutenlauf in dem peitschenden Unwetter. Dort, dicht am Bahngeleise winkte ein flackerndes Lichtlein. Dort war Ruhstatt bei Weib und Kind. Die Kleinen schliefen wohl längst; aber das Bethli wartete immer, bis er heimkehrte. Und war der letzte Zug vorbeigesaust, so senkte sich für einige Stunden traumloser Schlaf auf das Häuschen des Bahnwärters. Ein Hund kläffte im nahen Bauernhof.
Vom Axenberg herunter tönte ein dumpfes Rollen, wachsend, wie ein steinernes Heulen und Stöhnen. Jäh hielt der Mann im Schritt inne und hob das Haupt, als könne er durch die Finsternis die Art de Unheils erkennen, das da drohend vom Berghang herunterdonnerte.
Er prüfte nicht weiter: donnernd, vernichtend erscholl die Antwort, und ein Beben lief durch den erschütternden Grund. Das war's!
Dann trat unheimliche Stille ein; nur das Tosen der Fluten vom See her verstärkte sich. Der Domini zauderte nicht.
Mit einem Ruck machte er kehrt und eilte die Bahnstrecke zurück. Vergessen war das flackernd Lichtlein, wo die Ruhstatt winkte. Lag die Bahn noch frei?
Bei der Brücke stockte sein wegkundiger Fuss - er kannte den Pfad nicht mehr. Fremd und zerstört lag das Gelände; weder Damm noch Schienenstrang waren mehr sichtbar; Schutt und Schlamm türmten sich mannshoch vor ihm auf. "Jesus, Maria!" stöhnte er mit starrem Grauen. Ein entsetzliches, nie gekanntes Gefühl würgte ihm die Kehle - wie ein Blitz zuckte der Gedanke durch sein Hirn: der Nachtzug ist unterwegs, und seine Strecke, Domini Selms Strecke, liegt verschüttet!
Wie ein angeschossenes Wild jagte er die schroff ansteigende Böschung hinan, um die höher gelegene Fahrstrasse zu erreichen. Es gab kein anderes Hinüberkommen.
Er kletterte eilig über den Hang, durch dorniges Gestrüpp und Geäst, indem er sich an den niederhängenden Ästen der Weiden festhielt.
Oben auf der Strasse angelangt, atmete er freier.
Der Wind, der sich im vorher feindlich in den Weg gelegt hatte, stiess ihn nun mit rauer Faust vorwärts; der Sturm selbst trieb ihn zur Eile; alles raste mit ihm dem gefährdeten Zug entgegen.
Rutschend, stolpernd ging es wieder Böschung hinab auf das Bahngeleise hinter der verwüsteten Strecke. Und nun fing er mit seinen langen Beinen so grimmig an auszuschreiten, dass sich sein Atem keuchend durch die fest verschlossenen Lippen zwang.
Im Laufen griff er nach der Tasche in der Dienstjoppe: die Platzpatronen waren da. Nur eins war zu tun: eine möglichst lange Strecke zurückzulegen und so viel Explosionskapseln als möglich auf die Schienen legen, dass der Schnellzug, aufmerksam gemacht durch die knallenden Mahner, noch Zeit fand, seine verderben bringende Schnelligkeit vor der Unglücksstelle zu mässigen.
Dies alles kreiste in tollem Wirbel durch den verwirrten Geist des Wärters.
Jetzt drang er in den Ölberg-Tunnel ein. Der Föhn liess ihn los; aber gruftähnlicher Modergeruch umhüllte ihn jetzt. Wasser troff von den Wänden. Sein Schatten glitt gespenstisch an der steinernen Wölbung neben ihm her. Seine Laterne warf einen düsteren Schein über die gleissenden Schienen...
Heiss rann ihm der Schweiss unter der Mütze hervor. Sein Atem flog. Eine Sekunde musste er sich an die Mauer lehnen; ihm war, als berste seine Brust. "Es muss!" keuchte er, sich vorwärts treibend, und wenn's mich zu Fetzen risse!"
Der Weg zog sich entsetzlich in die Länge. In seinen Schläfen war ein Hämmern, dass er lauschend innehielt... War's der Zug, der Mitternachtszug, der von Arth-Goldau aus an allen Stationen vorbeieilte und nur in Erstfeld hielt? Heute musste er vor Sisikon zum Stehen gebracht werden, so wahr er Domini Selm hiess... sonst!
Eisig fuhr es ihm durch die Glieder. Entgleiste der Zug an dieser Stelle, so stürzten die Wagen zum nahen See hinab und die Wellen schlossen sich rauschend über dem Wassergrab.
In endloser Länge dehnte sich der Ölberg-Tunnel, als steckte er voll Gespenster. Wäre er erst draussen! Dort war doch der Wind, der wie lebendige Menschen heulte und drängte.
Vorwärts! - immer weiter, um die offene Strecke zwischen dem Franziskus- und dem Ölberg-Tunnel zu erreichen. Dort sollten die warnenden Schüsse krachen. Innerhalb des Felsenganges würde ihr Schall im donnernden Getöse ungehört verhallen.

Als Domini Selm im Eilschritt aus dem Gang der Hochfluh trat, sah er einige Lichtlein am kalten, hell gewordenen Himmel flimmern. Der frische Luftzug strich ihm kühlend über das erhitzte Gesicht.
Er beugte sich und legte behutsam die kostbaren kapseln auf den schmalen Schienenstrang. Dann reckte er sich mit einem Stöhnen: "Jesus! Wenn es nur nicht zu spät ist!" Seine Knie schlotterten.
Er lehnte erschöpft an einem Pfeiler und beugte sich spähend und horchend vor - nichts als das laute Pochen in seiner Brust und das Tosen in seinen Ohren und das Lärmen des Wildbaches.
Er zog seine Uhr - er sah nichts, kalter Dunst lag auf dem Zifferblatt. Er rieb sie an seiner wollenen Joppe und hob die Laterne, die in seiner Hand klirrte: zwanzig Minuten vor Mitternacht!
Domini Selm schloss die Augen... Ausschnaufen! Nur einen kurzen Augenblick!...
Und nachher? Immer weiter nach Brunnen?
Nein, das war nicht mehr zu erlangen. Also zurück gegen Sisikon, um wenn möglich noch vor dem Zuge die gefährdete Stelle wieder zu erreichen.
Er horchte auf: ein dumpfes, fernes Grollen zog in der Stille den Berg entlang, vom Seelisbergerwall widerhallend. Er kannte es wohl! Wie anders klang es heute! Wie die todbringende Verkündigung eines unabwendbaren Schicksals.
Er schnellte auf. Das gab ihm wieder Beine und neue Kraft. "Er kommt! Er kommt!" Und in wilder Hast ging es wieder durch den Felsengang. Wie ein geängstigtes Wild keuchte er in halb unterdrückten Klagelauten. Jetzt war der Ausgang erreicht.
Da erscholl ein gellender, kurzer Pfiff: der Nachtzug fuhr in den Ölberg-Tunnel ein. Die Knallsignale hatten versagt!
Noch einige Minuten, und aus der unterirdischen Gruft tretend, würde der Zug mit jauchzender Schnelligkeit ahnungslos dem Verderben zurasen. Der Domini stierte wie festgebannt nach der Mündung der Höhle, aus der ein entsetzliches Verhängnis drohte.
Ein Flimmern wie von unzähligen Totenkerzen umgaukelte ihn, und ihm schwindelte... Er griff sich an die Stirn und tastete im Dunkeln nach einem Halt.
Er sah den Zug, dem er täglich mit blöden Augen nachschaute, jetzt in seinem Geiste, als wären die Waggonwände von leuchtendem Kristall und als sässen die Menschen da in strahlender Helligkeit.
Die meisten lagen, halb hingestreckt, mit schlaffen Gliedern, von langer Reise ermüdet, hin und her gerüttelt, mit trägen Mienen. Andere blickten in die Nacht hinaus, die Stirne an die Scheiben gedrückt, und Bilder vergangener Stunden und künftiger Hoffnungen tauchten ihnen aus der gespenstischen Finsternis auf wie die flimmernden Lichter der vorbei gleitenden Weiler und Gehöfte.
Auf den harten Bänken der dritten Klasse sassen sie eingepfercht wie Herden, den Kopf an die Schulter des Fremden Kameraden gelehnt, von Müdigkeit übermannt: Arbeiter und Leute aus dem niederen Volke, die karge Habe im Bündel geschnürt, Auswanderer und Taglöhner. Dazwischen lagen Kinder, hart gebettet, und mochten nicht schlafen bei dem dröhnenden Schlummerliede ihrer eisernen Hüterin.
Und alle die Schläfer und die Träumer waren nicht gefasst auf den würgenden Tod, der wie ein Dieb in der dunklen Nacht heranschlich und auf sie lauerte. Ahnten sie ihn, sie würden wimmern und beten und heulen und rufen, dass ihr Jammern zum Buggisgrat und zum Urirotstock steigen und das Tal mit Entsetzen erfüllen würde.
Dies alles sah der Domini, der in seinem Leben noch nicht viel gesehen hatte; er sah es, ohne sich recht bewusst zu werden, was dies alles bedeutete. Er war wie gelähmt an seinem Körper; aber in seinem Hirn löste sich der Nebel, getroffen vom grellen Lichte der Gefahr.
Jetzt schrak er auf. Ein Ruck ging durch seinen Körper, als rüttle ihn eine unsichtbare Faust und stosse ihn vorwärts.
Der unterirdische Donner wachte wieder auf, wuchs an, näherte sich grollend und keuchend, rollte wie schweres Geschütz durch die Felsenwände und wand sich mit einem jubelnden Erlösungspfiff aus der rauchspeienden Höhle heraus...
Noch ein schriller, lang gedehnter Pfiff ertönte.
Der Bahnwärter jagte dem Zug entgegen, die Signallaterne schwenkend. Bei allen Heiligen! Er raste ja noch im vollen Dampfe daher... Was nun? Was nun? War denn alles umsonst gewesen?
Er wollte rufen, wettern, schreien, die ermattete Kehle versagte im lähmenden Gefühl des Entsetzens...
Nur die glotzenden Augen der Lokomotive, die nichts sahen, rückten immer näher.
Der zu Tode erschöpfte Mann sah, dass der Zug an ihm vorübereilte, und der Luftdruck fuhr ihm durch die Haare mit tödlicher Kälte. Ein Geruch von heissen Dämpfen, ein Geräusch, als ob Riesen mit Felsen kämpften... Räderächzen und lodernder Qualm...
Der Selm machte kehrt wie im Wirbelwind, lief dem Zug nach, wetteiferte mit ihm in rasender Anstrengung, ohne in seiner Angstverwirrung zu merken, dass der Koloss dampfspeiend, zaudernd in die Nacht spähte und seine Geschwindigkeit mässigte.
Sein Atem ging kürzer, in Pausen; aber Domini lief und lief, schwenkte die Signallaterne, schwang sie kreisend ob seinem Haupte und schrie unverständliche Laute, die im tosenden Lärm untergingen.
Er erreichte die Lokomotive: "Halt! Halt!" Ächzend kam's von seinen Lippen, er warf die Laterne im Bogen von sich... "Halt! Um aller Heiligen willen!..." Seine Arme griffen suchend umher, streckten sich aus, in ausgebreiteter Haltung, als könne er den Zug aufhalten; dann fiel er widerstandslos um, den gläsernen Blick starr auf den anscheinend enteilenden Zug gerichtet...
Da ging ein Ruck jäh durch alle Wagen. Der Dampf schoss zischend aus den eisernen Flanken; die Bremse griff hemmend in die Bewegung ein, und - zwanzig Meter vor dem hoch getürmten Schuttwall des Wildbaches, hart am steilen Rain über dem Abgrund des Sees, hielt der Nachtzug.
Schaffner und Zugführer stiegen aus; erregte Zurufe erklangen. Laternen eilten wie Irrlichter hin und her.
Die Lage wurde rasch erkannt. Schauer des Grausens zogen über die gebückten Nacken der wetterfesten Männer. Boten wurden nach der nächsten Signalstation ausgesandt...
Wagenfenster wurden heruntergelassen; ungeduldige Köpfe drängten sich im hellen Rahmen und spähten ängstlich umher. Was gab's nur? War es schon wieder eine Station?
Auf den Gang der ersten Klasse traten verdriessliche Reisende heraus und schimpften in hochfahrendem Ton: "He! Schaffner, was will das bedeuten? Natürlich wieder eine Verspätung... Höchst fatal!"
Da meldete ein Bahnangestellter, der Wärter liege tot an der Böschung...

Diese Geschichte beruht auf einem tatsächlichen Vorkommnis.
Weitere Infos hierzu sind in Vorbereitung.