Lokomotivführer Lombardi
ZWEITES KAPITEL

Battistino Lombardi musste noch fünf Wochen zur Schule gehen. Diese Frist kam ihm vor, wie fünf Jahre. Häufig dachte er zurück an die schöne Zeit zu Hause, aber ebenso oft beschäftigte er sich mit der Zukunft. Er zählte die Tage bis zum Schulschluss. Der Onkel hatte einige Male versucht, den starren Sinn des Knaben zu ändern, doch er sah schliesslich ein, dass seine Versuche nutzlos waren, ebenso zwecklos wie die langen Unterredungen mit seinem Bruder. Eines Abends rief er den Neffen in sein Büro und eröffnete ihm, dass er nach Schulschluss bei der Firma Gebrüder Ferrari in Faido als Lehrling eintreten könne, und zwar zusammen mit seinem besten Schulfreund Giuseppe Dotta. Cesare Lombardi hatte mit Giuseppes Vater gesprochen und war daraufhin nach Faido gereist, um die Sache mit Ferrari ins reine zu bringen. Herr Dotta besass in Airolo ein grosses Kaufhaus, und es war sein Wunsch gewesen, dass sein Sohn später das Geschäft weiterführen würde. Der Junge wollte jedoch Mechaniker werden oder Chauffeur. Dotta versuchte zuerst, seinem Sohne diesen Plan auszureden. Als er aber dann die Nutzlosigkeit aller Einwände erkannte, erhob er keinen Einspruch mehr, sondern betrachtete die Angelegenheit vom kaufmännischen Standpunkt aus. Seit Jahren hatte er beobachtet, wie die Zahl der Autos, die an seinem Geschäft vorbeifuhren, wuchs. Der Junge sollte sich ruhig mit diesem modernen Fahrzeug vertraut machen und Chauffeur werden. Später konnte man ihm dann eine Garage mit Reparaturwerkstatt einrichten, die in Airolo noch fehlten. Als Battistino den Entscheid seines Onkels hörte, war er überglücklich. Nun sollten seine kühnsten Pläne in Erfüllung gehen! Drei Jahre dauerte die Lehre, und die ganze Zeit konnte er mit seinem Freund Pep zusammensein. Die beiden Jungen steckten schon jetzt immer beisammen. Stundenlang sassen sie am Bahnhof und schauten zu, wie die Züge ein- und ausfuhren. Sie zählten die Wagen der Güterzüge und rechneten ihr Gewicht aus. Die schwerbeladenen Kohlenzüge, die nach Süden rollten, wogen oft mehr als tausend Tonnen... eine Million Kilogramm. Wenn die Wagen wieder leer nach Norden befördert wurden, wollte die lange Reihe oft gar kein Ende nehmen. Die Stationsbeamten und Arbeiter kannten die beiden lebhaften Jungen und gaben ihnen gerne Auskunft auf ihre Fragen. Als zukünftige Mechaniker interessierten sie sich besonders für die mächtigen Lokomotiven. Eifrig schmiedeten sie Pläne: wenn sie mit der Lehre fertig waren, wollten sie fort aus den kleinen Verhältnissen ihrer engeren Heimat, in die grossen Werkstätten fremder Städte, wo man die Lokomotiven baute. Der Lokomotivführer auf seiner Maschine kam ihnen wie ein höheres Wesen vor, das gewaltige Kräfte meisterte. "Lokomotivführer, das wäre ein Beruf für uns, Battistino!" sagte Pep einmal zu seinem Freunde. Battistino hörte die Worte, nahm sie in sich auf, vergass sie aber; erst viele Jahre später, als er vor wichtigen Entscheidungen stand, kamen sie ihm wieder in den Sinn.

Eines Tages sass Battistino nach dem Schulunterricht vor den Wirtschaftsräumen des Hotels auf einer alten Kiste und reinigte das Fahrrad des Portiers. Zuvor hatte er am Vorderrad ein Loch im Schlauch geflickt; jetzt rieb er die Metallteile des Velos mit einem wollenen Lappen blank. Plötzlich hob er lauschend den Kopf. Er hatte einen Pfiff gehört - das war sein Freund Pep. Zweimal liess Pep das Warnungssignal der Murmeltiere hören; da musste etwas Wichtiges vorliegen. Battistino pfiff die Antwort: "Ich komme sofort." Er stellte das Fahrrad weg und lief durch den kleinen Garten auf die Strasse, wo ihn Giuseppe Dotta erwartete. "Komm, Battistino", rief ihm Pep entgegen, "der alte Franco ist auf dem Friedhof. Wir wollen hinauf, vielleicht bringen wir ihn zum Reden!" Die beiden Jungen rannten los und gelangten bald vor das grosse Tor des Friedhofs, der etwas ausserhalb des Dorfes liegt. Sie gingen den Mittelweg hinunter und traten vor die Familiengruft der Lombardis. In stummem Gebet blieben sie hier eine Weile stehen. Pep blinzelte verstohlen zur anderen Seite hinüber, wo auf einer steinernen Bank der alte Franco sass und seine gichtigen Glieder von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne wärmen liess. Oh, sie kannten ihn gut, den alten Franco Pini. Allen Jungen im Dorfe war er ein guter Freund. Aber man durfte ihn nicht plagen, man durfte nicht betteln um eine Geschichte. Wenn man das tat, so sagte der alte Franco nur: "Geh schau dich selber um." Aber wenn der Alte von selbst zu erzählen begann, so wurde es ein so packender Bericht, dass man die Menschen und Tiere, die Städte und Dörfer, von denen er sprach, vor sich erblickte. Man hörte die Menschen reden, man sah, wie sie sich bewegten, wie sie arbeiteten und kämpften. Franco hatte die jungen Burschen wahrgenommen. Seine immer noch klaren Augen blinzelten in der Sonne. Er beobachtete, wie die beiden Freunde vor das Denkmal traten, das den "Vittime del Traforo", den Opfern des Gottharddurchbruchs gewidmet ist. Battistino dachte daran, dass sein Vater einmal zu ihm gesagt hatte, zu diesen Opfern gehöre auch die Familie Lombardi; aber damals hatte er den Sinn dieser Worte nicht verstanden. Er hob die Augen zu dem Granitkreuz und gewahrte dahinter am Hang der Berge dunklen Tannenwald, der spärlicher wurde, je höher er schaute. Zuletzt erfasste der andächtige Blick des Knaben das Kreuz, das von dem leuchtend weissen Grat des Poncione di Vespero in den tiefblauen, klaren Himmel ragte. Battistino hatte das Denkmal der Vittime del Traforo schon oft betrachtet, aber noch nie war es ihm so erhaben erschienen, wie heute. Vielleicht bewirkte das die Nähe des alten Franco, denn der alte Mann hatte sie alle gekannt, die Opfer des Tunnelbaus, und auch er hatte seinen Tribut entrichten müssen; drei Finger fehlten ihm an der linken Hand, und zudem plagte ihn die Gicht, die ihn oft wochenlang ans Bett fesselte. Pep verhielt sich ebenfalls still, doch blickte er verstohlen zu Franco hinüber, der sich von seiner Bank erhoben hatte und langsam näher kam. Das Denkmal zeigt das in Marmor gehauenen Bild des Erbauers des Gotthardtunnels - Louis Favre. Rechts davon steht auf einem Sockel ein lebensgrosser Arbeiter, die Grubenlampe in der Hand; er blickt auf seinen Chef, der den Durchbruch nicht mehr erlebte, da ihn der Tod mitten in der Arbeit ereilte. Das sinnvolle Denkmal und der wunderbare Hintergrund machten einen tiefen Eindruck auf die beiden Jungen. Battistino erinnerte sich, wie ihm sein Grossvater vom Erbauer des Gotthardtunnels erzählt hatte. Louis Favre war während seiner Reisen über den Berg häufig im Hospiz eingekehrt, wenn er vom Arbeitsplatz im Norden kam, um beim Südportal nach den Rechten zu sehen. Der Grossvater hatte ihm auch berichtet, dass der lebhafte Genfer Ingenieur immer wieder versucht hatte, ihn zu einem Freunde des Tunnels zu machen; zu diesem Zweck hatte er ihm unermüdlich die technischen und wirtschaftlichen Vorteile des Unternehmens erläutert. Battistino hatte nicht bemerkt, dass Franco Pini ganz nahe zu ihnen getreten war, und er erschrak beinahe, als er die Stimme des Alten auf einmal neben sich hörte. "Es ist ein grosses Werk, das der Mann da vollbracht hat, ihr Jungen. Er war mein Chef!" Das sagte der alte Mann ganz bescheiden, und doch hörte man aus seiner Stimme, dass ihn das Bewusstsein, dabeigewesen zu sein, mit Stolz erfüllte; Franco Pini gehörte zu den letzten lebenden Veteranen des Tunnelbaus, denn er war von Anfang an als Mineur daran beteiligt gewesen. Er hob den Arm, deutete auf das Bild Favres und sagte: "Jeden Tag besuche ich meinen Chef, wenn mich die Gicht nicht zu sehr plagt. Er hat es nicht mehr erlebt, wie wir den Berg bezwungen haben - es fehlten noch sechshundertfünfzig Meter, als er starb, aber sieben Monate nach seinem Tod reichten uns, die wir von Süden kamen, die Mineure vom Norden sein Bild durch die kleine Öffnung an der Durchbruchstelle. Ich habe es in Empfang genommen. Die Hand, die mir das Bild reichte, war blutig, die Haut hing in Fetzen daran herunter. So haben wir geschafft..." Die drei so verschiedenen Menschen standen vor dem Denkmal der Arbeit inmitten der eindrucksvollen Gebirgswelt, der Alte, der von seinem ereignisreichen Leben erzählte, und die beiden Jungen, die in wenigen Wochen ins Leben traten, die sehen, lernen, etwas erleben wollten. Auch sie wollten arbeiten, aber dass man sich die Haut dabei abschinden musste, war doch etwas viel. Verwundert fragte Giuseppe Dotta den alten Mineur: "Aber Franco, warum musstet ihr denn so schaffen, dass euch dabei die Haut in Fetzen ging?" "Warum wir so geschuftet haben?" Der alte Mann hatte die Worte mit einem seltsamen Lachen hervorgestossen und starrte in die Ferne, als schauten seine Augen nochmals jene Szene wilder Arbeit tief drunten im Dunkel des Berges, da nur noch wenige Zentimeter die von Nord und Süd vorgetriebenen Stollen trennten. Den beiden Knaben wurde es unheimlich zumute, als sie ihren alten Freund so sahen. "Vielleicht ist er doch nicht mehr ganz richtig im Kopf", dachte Battistino, aber Franco Pini fuhr mit klarer Stimme fort: "Warum wir so geschuftet haben, wollt ihr wissen. Wegen des Sieges! Zehn Jahre haben wir im Tunnel geschafft, zehn Jahre wühlten wir wie Maulwürfe im Boden, bezwangen den harten Gneis und Granit. Viele Kameraden, liebe Freunde, hat der Berg in dieser Zeit erschlagen. Kalt und stumm lagen sie auf der Bahre, wenn sie hinausgetragen wurden. Eisiges Wasser überströmte uns, wenn wir eine Quelle anbohrten; Schlammbäche schwemmten uns oft wie dürre Blätter weg, Menschen und Maschinen, wenn wir ihre unterirdische Bahn kreuzten. Wir kämpften gegen höllische Hitze und eisige Luftströmungen, gegen Hunger, Durst und Krankheiten. Zehn lange Jahre fuhren wir tagtäglich zur Schicht in den Tunnel ein, immer weiter vom Tageslicht entfernt. Unsere Körper waren ausgemergelt; zerschunden vom Berg, unserem Feinde, der sich gegen die Bedrohung durch die Menschen wehrte. Wenn wieder ein toter Kamerad hinausgebracht wurde, sagten die Leute in den Dörfern: "Gott hat ihn gerichtet!" Aber wir wussten es besser. Es war der Berg, der sich zur Wehr setzte und Wunden schlug, weil wir ihn verwundeten. Zehn lange Jahre haben wir so gearbeitet, gekämpft, und an jenem Tage sollte -nach der Berechnung der Ingenieure- von der nach uns antretenden Schicht der Durchschlag erfolgen. Hahaha, so war es berechnet worden, aber wir errangen dennoch den Sieg!" Franco machte eine Pause und stützte sich mit der einen Hand auf seinen Stock, während er die andere auf Battistinos kräftige Schulter legte. Die Jungen waren seiner Erzählung atemlos gefolgt: das war Leben, das war Kampf, wie sie ihn ersehnten. Voller Spannung blickten sie Franco an, als der Alte weitererzählte. "Es fehlte noch eine Stunde bis zu unserer Ablösung. Die Mineure der folgenden Schicht warteten schon hinter uns, die Uhr in der Hand. Uns war, als hörten wir bereits ihr Siegesgeschrei, wenn unsere Schicht abtreten musste, ohne dass der Durchschlag erfolgt war. Zweimal hatten die Männer der Ablösung uns schon die Pressluft zu den Bohrmaschinen abgestellt, um unsere Arbeit zu verzögern... hahaha, das bedeutete verlorene Zeit, kostbare Minuten. Aber es nützte ihnen nichts, sechsundvierzig Minuten vor Schichtende waren wir durch, errangen den Sieg. Erst dann sanken einige von uns wie tot zusammen; erst dann bemerkten wir unsere Wunden!" Franco schwieg lange Zeit, versunken in den Anblick seines Chefs, der vom Denkmal zu ihm hinüberblickte. Dann erzählte er, wie die freudige Nachricht vom Durchbruch mit Windeseile in Airolo und Göschenen verbreitet wurde. "Von dort aus verkündeten Telegraph und Telefon der Welt, dass der weite Gürtel von Granit und Eis geschleift und das riesige Werk der Lichtung, wie reich auch an Mühen, vollbracht war, heisst es im Bericht der Gotthardbahngesellschaft über das denkwürdige Ereignis. Am folgenden Tage ruhte die Arbeit. Der König von Italien, der Kaiser von Deutschland, alle Regierungen des Kontinents gratulierten unserem Lande zum vollbrachten Werk. Nord und Süd, bis jetzt nur durch die weitabliegende Mont-Cenis-Bahn verbunden, konnten nun auf geradem Wege Menschen und Güter austauschen." Der alte Mineur deutete auf die silberne Medaille, die er an der Uhrkette trug, und erklärte stolz: "Das ist eine der dreitausend Gedenkmünzen, die an jenem ersten März an die Arbeiter verteilt wurden. Es leben nur noch wenige, die sie damals erhalten haben. Ich... nehme sie mit, wenn ich eines Tages hier neben meinem Chef zur Ruhe gebettet werde." Battistino fühlte, wie echt die Begeisterung war, die den alten Mann erfüllte, während er von seiner einstigen Arbeit sprach. Sein Vater hatte ganz anders von diesen Leuten geredet, hatte sie Sklaven genannt, die ihre Handlangerarbeit nur verrichteten, um auf diese Weise ihr freudloses Leben zu fristen. Franco hingegen sprach von der Arbeit, wie von seinem Werk, als hätte er für sich selber gekämpft. Diese Begeisterung, diese Aufopferung mussten einen anderen Antrieb haben, als blossen Lohn. Da war etwas, das er noch nicht ergründet hatte, worauf auch sein Vater keine Antwort geben konnte. Oder verbargen sich hinter dem Hass seines Vaters gegen alles Neue nur selbstsüchtige Gefühle? Battistino spürte den leichten Druck der Hand, die auf seiner Schulter lag; ein Gefühl der Zusammengehörigkeit durchströmte ihn. Der einfache alte Arbeiter war in seinem Innern jung geblieben, und so getraute Battistino sich, ihn zu fragen: "Ihr habt wohl gerne bei der Bahn gearbeitet, Franco?" "Natürlich, Battistino", erwiderte der Alte und blickte auf den Jungen, als hätte er dessen Gedanken erraten. "Nicht nur ich", fuhr er fort, "sondern alle aus dem Tale hier haben gerne an dem Werk gearbeitet. War die Bahn erst einmal im Betrieb, so musste sie uns näher zu den anderen Menschen bringen, näher zur übrigen Welt. Das wussten wir alle. Über den Pass kann man in einem Jahr nicht einmal einen Bruchteil der Menschen und Güter befördern, die die Bahn in einem einzigen Monat von Norden nach Süden und von Süden nach Norden führt. Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten, und man nützt niemand damit, dem Rade der Zeit in die Speichen zu fallen, wie... wie dein Grossvater und dein Vater, Battistino." Betroffen schaute Battistino auf. Er wollte seinen Vater verteidigen, aber im gleichen Augenblick erkannte er die Wahrheit in den Worten des alten Mineurs. Die Lombardis im Gotthardhospiz wollten das Rad der Zeit aufhalten, weil es um ihren Betrieb, um den Verkehr über den Pass ging. Sie widersetzten sich der Einsicht, dass auch das Neue viele gute Seiten hatte. Aber er selbst, der jüngste Lombardi, er hatte erkannt, dass das Neue einem jeden Vorteile bringen konnte, wenn man sie zu ergreifen wusste. Er ahnte, dass das Neue nicht nur stärker, sondern auch besser sein konnte, und dass es der Allgemeinheit diente. Die Sonne, die am granitenen Kreuz immer höher geklettert war, versank hinter dem Grat des Vespero und sandte ihre letzten Strahlen als silberne Bänder hoch über das Tessintal hinweg. "So, meine lieben Freunde", sagte der alte Mineur, "jetzt gehen wir heim." Schweigend, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, folgten ihm die beiden Jungen.

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