Lokomotivführer Lombardi
  Erzählung aus dem Eisenbahnerleben
von Emilio Geiler
ERSTES KAPITEL

Ein eisiger Wind jagte Wolkenfetzen und Nebelschwaden über den Grat des Winterhorns südwärts gegen das Gotthardhospiz. Seine Wut und Kraft verdoppelten sich nach der Vereinigung mit dem schneegeschwängerten Orkan, der von Furkaegg herauf nach Süden tobte.

Wenn die entfesselten Elemente, wie um Atem zu holen zu neuem Ansturm, einen Augenblick innehielten, fiel leichter Schnee, der die Felsen und dürftigen Alpweiden bedeckte. Der nächste Windstoss fegte die weisse Decke wieder weg, brachte kalten Regen und Hagel. Wütend rüttelte der Sturm an den dicken, eichenen Türen und Fensterläden des Gotthardhospizes. Er heulte und pfiff um die Ecken des mächtigen Gebäudes, das ihm mit seinen meterdicken Mauern trotzte.

Gerade als ein neuer, gewaltiger Windstoss durch den schmalen Raum zwischen den Ställen und dem Hauptgebäude fegte, wurde die Türe der zu ebener Erde liegenden Küche aufgerissen. Ein Knabe stürzte heraus, schlug die Türe zu und stemmte sich gegen den Sturm, der ihn umzuwerfen drohte.
Der Knabe rannte über die Strasse und schmiegte sich auf der Südseite an die Mauer des Nebengebäudes. Von hier spähte er zum Hospiz hinüber, während ihm die Tränen über die braungebrannten Wangen rannen; und dann entfuhr seinem Mund ein Schrei, der den Sturm übertönte: "O mamma mia!"
Er wusste selber nicht, warum er gerufen hatte. Bei diesem Unwetter konnte ihn doch niemand hören. Aber aus dem Schrei nach der Mutter klangen sein ganzes Elend, sein Jammer, seine Sehnsucht nach Liebe. Wie sehr hatte er die Liebe bei seinem Vater vermisst... Und jetzt jagte ihn der Vater in den grausigen Sturm hinaus!
Er hatte den Vater geliebt, verehrt, aber der Vater sah in ihm immer nur den Nachfolger im Geschäft. Schmerzlich hatte er die Liebe des Vaters entbehrt, und darum war er so früh reif geworden, reifer als seine gleichaltrigen Kameraden unten in Airolo. Er hatte es nicht gemerkt, dass ihm der Vater auf seine Art sehr zugetan war, dass er sein Zärtlichkeitsbedürfnis nur nicht verstand.
Der Knabe stampfte trotzig mit dem Fusse auf den harten Boden. Nein, nachgeben wollte er nicht. "No, per Dio, no!" schrie er in den Sturm und rannte über die Passstrasse - gen Süden.

Ein gewaltiger Windstoss packte ihn, als er hinter der schützenden Hauswand hervorstürzte, und warf ihn der Länge nach hin. Taumelnd erhob er sich und rannte weiter. Fort, nur fort! Wenn der Vater einen harten Kopf hatte, so wollte auch er nicht nachgeben.
Was er schon lange befürchtet hatte, war eingetreten. Wieder dachte der Junge an seine Mutter... wie sie leiden würde. "O mamma mia, perdona mi. Vergib mir, Mutter!" Der Knabe drückte sich hinter einen Felsen.
Das eisige Wasser lief ihm aus den unbedeckten Haaren über das Gesicht; es kostete ihn Mühe, mit seinen blaugefrorenen Händen das Taschentuch um den Hals zu binden.

Von hier aus fiel die Strasse steil gegen die Tremola ab. In der Tiefe heulte und tobte der wie in einem Kamin gefangene Sturm.
An dieser Stelle hielt der Vater immer an, wenn er mit Ross und Wagen aus dem Tale zurückkehrte. Von hier aus gewahrte man hoch oben das Hospiz, und zurückschauend schweifte der Blick weit ins Tessintal hinunter. Nach Westen konnte man dem Laufe des jungen Flusses bis zum Nufenen folgen.
Doch jetzt sah man nichts. Wolkenfetzen und Nebelschleier jagten gespenstisch vorbei, und in der tiefen Schlucht lärmte und heulte der gefangene Wind.

Hinter den Felsen geduckt, starrte der Junge in den Aufruhr der Elemente. Er empfand keine Furcht. Er liebte den Kampf der entfesselten Naturgewalten, das grossartige Schauspiel, das sie boten. So wollte auch er kämpfen... gegen den Willen seines Vaters.

Halt! Er riss sich zusammen. Die müden Augen waren ihm zugefallen. Er durfte sich nicht gehen lassen, das war gefährlich. Wenn ihn der Schlummer übermannte, würde er nicht mehr aufwachen. Friedlich schlafend würde man ihn finden, tot... und er wollte doch leben, kämpfen, etwas werden.
Mit schmerzenden Gliedern erhob sich der Junge und rannte weiter, getrieben vom Sturm in seinem Rücken.
Mit ganzer Kraft stemmte er sich oft gegen die Felsen, um nicht in den Abgrund geschleudert zu werden. Seine Hände bluteten, die Glieder schmerzten ihn unter den steifgefrorenen Kleidern. Dampfender Schweiss vermischte sich mit dem eisigen Wasser, das ihm über den Körper rann.
Er biss die Zähne zusammen und kämpfte mit fast tierischen Kräften gegen die entfesselten Gewalten der Natur. Wenn ihn ein Windstoss zu Boden warf, klammerte er sich mit blutenden Fingern an Steinen und mageren Grasbüscheln fest. Dann kroch er wieder auf Händen und Füssen ein Stück vorwärts.
Während der Sturm in kurzen Pausen Atem holte zu neuen Angriffen, taumelte der Junge mit steifen, schmerzenden Gliedern weiter. So arbeitete er sich durch die Tremola, oft nahe am Rande der tiefen Schlucht, aus der dichte Nebelschwaden heraufquollen.

Hinter den Ställen des Motto di Dentro suchte er kurze Zeit Zuflucht. Sein Blick schweifte zurück. Gebannt starrte er auf die Hölle, die er durchquert hatte. Nun trennte ihn schon die Tremola von seinem Elternhaus. "Man wird mich jetzt suchen, dort oben", dachte er. Sollte er zurückkehren... einlenken... mit dem Vater reden? "No", schrie er auf, und doch rannen ihm Tränen über die Wangen, wenn er an den Kummer der Mutter dachte.

Von dieser geschützten Stelle bis nach Airolo war der Weg leicht im Vergleich mit dem Kampfe gegen die Elemente weiter oben.
Der Sturm verzog sich gegen das Bedrettotal. Nasskalter Regen peitschte jetzt dem Jungen ins Gesicht.

Vor dem hellerleuchteten Hotel seines Onkels in Airolo machte Battistino Lombardi halt. Das war die Stätte, die ihm das Vaterhaus ersetzen sollte, nachdem er von daheim fortgejagt worden war. Er wollte die Halle nicht betreten, er schämte sich seines Aussehens; Gesicht und Hände waren blutig, die Kleider zerrissen.
Battistino ging um das Haus herum und betrat es durch die Wirtschaftsräume. Ungesehen wollte er in sein Zimmer hinaufschleichen, um sich zu waschen und die Kleider zu wechseln.
Während der Schulzeit wohnte Battistino Lombardi beim Onkel in Airolo, damit er nicht täglich den Weg ins Hospiz zurücklegen musste.

Als er im ersten Stock leise an den Privaträumen seines Onkels vorbeischleichen wollte, trat der Hotelbesitzer soeben aus dem Wohnzimmer, das ihm gleichzeitig als Büro diente. Zuerst fiel Cesare Lombardi die Anwesenheit Battistinos nicht weiter auf. Er dachte nicht daran, dass es Samstag war, wo der Junge jeweils gleich nach der Schule ins Gotthardhospiz eilte. Aber dann bemerkte er die schmutzigen Wasserspuren, die der Junge auf dem blanken Boden hinterliess. Da stimmte doch etwas nicht; Battistino war sonst ein reinlicher Bursche. Er hielt den Neffen an und sah nun, in welch erbarmungswürdigen Zustand sich der Junge befand. Mit einer Handbewegung forderte er ihn auf, ihm zu folgen.
Battistino betrat hinter seinem Onkel die Stube. Er gab keine Antwort, als Cesare Lombardi ihn fragte: "Was ist geschehen, Battistino?"
Der Onkel betrachtete ihn und blickte dann aus dem Fenster, hinauf gegen den Gotthardpass. In der frühen Dämmerung erschien der Ausschnitt der Tremola zwischen den Bergen als schwarzes Loch, dem grotesk geformte Nebelschwaden entquollen.
"Verdammt", murmelte Cesare Lombardi, der das Gebirge und seine Tücken kannte. Heute war ja Samstag, und mittags hatte ihm seine Frau gesagt, dass Battistino nach Hause gegangen sei. Wenn der Junge jetzt vom Pass kam -bei diesem Nordweststurm- so musste etwas Entscheidendes geschehen sein.
Er hatte ihn gern, den Battistino, und es bereitete ihm Freude, den Jungen während der Schulzeit die Woche über in seinem Hause zu beherbergen.
Leises Schluchzen riss Lombardi aus seinen Gedanken. Battistino war am Ende seiner Kraft. Er vermochte sich kaum noch auf den Beinen zu halten. Weinend berichtete er: "Vater hat mich... hat mich... fortgejagt."
"Oh, povere Battistino!" rief Frau Lombardi, die soeben eingetreten war und die Worte des Knaben gehört hatte. "Und bei diesem Sturm bist Du heruntergelaufen! Du hättest dir ja den Tod holen können!" Sie sah, wie der Junge trotz der Wärme in der geheizten Stube zitterte.
Als ihr Mann das Verhör fortsetzen wollte, nahm sie Battistino kurz entschlossen bei der Hand. "Das hat Zeit bis nachher, Cesare. Jetzt muss der Kleine ins Bett. Telefoniere doch unterdessen hinauf, dass er da ist!"
Für sie, die kinderlose Frau, war der fünfzehnjährige Battistino immer noch der "Kleine", obwohl er gut einen Kopf grösser war, als sie.

Frau Lombardi führte Battistino in sein Zimmer. ErST hier sah sie, in welchem Zustand seine Kleider, wie zerschunden Gesicht, Hände und Knie waren. Erschrocken rief sie nochmals: "Oh, povere figlio!" und half dem Knaben beim Ausziehen. Sie wusch ihn rasch, steckte ihn ins Bett und befahl einem Mädchen, heisse Bettflaschen und Tee zu bringen.
Frau Lombardi wusste, was der Junge nötig hatte - mochte geschehen sein, was wollte, das hatte Zeit bis morgen. Wie leicht konnte Battistino eine Lungenentzündung bekommen, nach dem, was er durchgemacht haben musste. Oh, sie kannte diese Stürme in den Bergen. Vorerst galt es den Jungen zu pflegen, und zu verhindern, dass er krank würde.
Cesare Lombardi telefonierte unterdessen mit seiner Schwägerin und berichtete, dass Battistino sich bei ihm eingefunden hätte. Sie antwortete: "Oh, danke, Cesare. Gottlob ist er bei euch! Ihr könnt euch nicht vorstellen, welche Angst ich ausgestanden habe. Überall habe ich ihn gesucht, denn ich glaubte, dass er sich versteckt habe. Dio mio! Bei dem Sturm durch die Tremola... der arme Junge."
"Und der Battista, was sagt er dazu?"
"Battista... der Vater ist fort... mit dem Gewehr!"
"Aha", sagte Cesare Lombardi. Nun war er im Bilde. Wenn sein Bruder etwas mit sich auszumachen hatte, wenn er allein sein wollte, verschwand er stets in die Berge und kam tagelang nicht zurück. In seine Gedanken ertönte die Stimme der Schwägerin: "Morgen früh komme ich mit der Post hinunter, Cesare. Schaut mir inzwischen gut zu dem Jungen." "Sei unbesorgt, Giovanna", erwiderte Cesare Lombardi. "Wir wollen dann die Sache besprechen. Battistino sagte zu mir, er sei fortgejagt worden, aber das wird wohl nicht so ernst gemeint sein." Er hängte den Hörer auf und schritt nachdenklich im Zimmer auf und ab. Beim Fenster blieb er stehen und starrte zum Gotthardpass hinauf. Noch immer jagten schwere Wolken und Nebelfetzen aus der engen Schlucht der Tremola wie aus einem Dampfkessel. Bei diesem Wetter hatte Battista den Jungen fortgejagt, um dann selber in die Berge zu gehen. "Da ist doch etwas Ernstes vorgefallen", dachte er. Seine Frau kam herein und sagte: "Er schläft, Cesare. Aber wie der arme Junge aussieht... sein ganzer Körper ist voll Wunden und Beulen. Ein Wunder, dass er sich nicht den Tod geholt hat... bei diesem Wetter." "Wenn er die Nacht durchschläft, dann übersteht er es schon. Die Lombardis sind zäh... Morgen kommt Giovanna, dann wollen wir über die Sache sprechen." Frau Giovanna Lombardi sass am Bett ihres Sohnes und betrachtete ihn liebevoll. Der Junge schlief noch, aber einige Bewegungen hatten ihr angezeigt, dass er bald erwachen werde. Sie dankte Gott, dass sie ihren Jungen wieder hatte. Das Erlebnis des gestrigen Tages war grauenhaft gewesen. Als erste hatte ihr die Köchin Maria den Vorfall gemeldet. "Signora", hatte sie weinend gerufen, "der Padrone hat mit Battistino Streit gehabt. Er hat ihn fortgejagt, nie dürfe er wiederkommen. Oh, Dio mio, es ist traurig." Darauf war Battista, ihr Mann in die Stube getreten und hatte sich am Gewehrschrank zu schaffen gemacht. Er war äusserlich ruhig, aber diese Ruhe war furchterregend. Kaum wagte sie zu fragen, was mit dem Sohne vorgefallen sei. Es war unheimlich, wie er die Gewehre untersuchte und mit der Hand liebkosend über das kalte, tote Metall strich. "Hätte er nur einmal meinen lieben Jungen so gestreichelt, es wäre nie so weit gekommen", dachte Giovanna Lombardi, während sie das Gesicht des Schläfers betrachtete. "Ich glaubte, aus dem Jungen einen richtigen Lombardi machen zu können", hatte ihr Mann endlich gesagt, während er immer noch mit den Gewehren hantierte. "Aber es sollte nicht sein... die fremden Fötzel, die Chauffeure, diese bezahlten Sklaven bedeuten ihm mehr. Er will Chauffeur werden, der junge Lombardi. Das Erbe der Väter gilt ihm nichts, Hahaha!" Battistas Lachen war unheimlich gewesen. Sie hatte versucht, ihn umzustimmen, hatte gefleht, wie nur eine Mutter um ihres Kindes willen flehen kann. Aber er blieb hart, sein Entschluss war gefasst. "Er kommt mir nie mehr ins Haus, und nie mehr will ich seinen Namen hören!" Das waren die letzten Worte gewesen, die ihr Mann gesprochen hatte. Dann hatte er sich ein Gewehr umgehängt und war in die Berge gegangen. Als Giovanna Lombardi wieder auf den Buben schaute, sah sie, dass er die Augen geöffnet hatte und sie betrachtete. Leise sagte er: "Oh, mamma mia... du bist zu mir gekommen... Ich darf ja nicht mehr heim, Mutter!" Giovanna strich ihm sanft das wirre Haar aus der Stirne und sprach lange und liebevoll auf ihn ein. Was Mutter und Sohn in jener Stunde miteinander besprachen, hat nie jemand erfahren, aber die Worte der Mutter, die er über alles liebte, begleiteten Battistino auf seinem Lebensweg und gemahnten ihn immer an das Leid, das er ihr und dem Vater zugefügt hatte. In einer langen Unterredung zwischen Giovanna und ihrem Schwager wurde dann Battistinos Zukunft entschieden. Er sollte seinen Willen haben, sollte Mechaniker werden. Zuerst musste er noch die letzten fünf Wochen die Schule besuchen, und während dieser Zeit würde er bei seinem Onkel in Airolo bleiben. Unterdessen wollte Cesare Lombardi Für eine gute Lehrstelle bei einem tüchtigen Meister sorgen. Vor allem aber wollte Cesare mit seinem Bruder sprechen, wollte alle Überredungskunst aufbieten, um ihn zu bewegen, seinen harten Entschluss rückgängig zu machen.