Durch die Lawine
Man begegnet im Leben oft Menschen, die, solange alles den gewohnten Gang geht, ruhig und gewissenhaft ihre Pflicht tun, sobald sich jedoch Schwierigkeiten entgegenstellen, Hindernisse den Gang des gewohnten, beschaulichen Lebensverlaufes hemmen, nicht mehr wissen, wo aus und ein und nach rastlosem Prüfen und Wähnen endlich gerade das tun, was die momentane schwierige Lage wenn möglich noch verschlimmert.
Dann begegnet man aber auch wieder solchen, die sich durch eben solche Hemmnisse nicht aus der Fassung bringen lassen und in raschem Erfassen der Lage auch schnell ein Mittel finden, das, mit Wagemut angewendet, die Bahn frei macht.
Wenn ein Beruf diese Fähigkeit des richtigen Erfassens und die Energie zu einer forschen, wagemutigen, nicht aber waghalsigen, Durchführung der für gut erfundenen Mittel zur Beseitigung eintretender Hemmnisse wünschbar macht, so ist es bei dem Eisenbahner, nicht zuletzt beim Lokomotivführer der Fall.
Die nachstehende Begebenheit handelt von so einem Hindernis. Ob ich bei der Beseitigung desselben richtig gehandelt habe? Der Leser möge urteilen!
Es war an einem Wintertage, wenn ich nicht irre, des Jahres 1912.
In den Bergen lagen ungeheure Schneemassen. Das Wetter war wärmer geworden, so dass ernste Lawinengefahr die Strecken der Gotthardbahn südlich des grossen Tunnels bedrohte.
Wir fuhren an jenem Tage mit einem voll beladenen Güterzuge gemächlich, so 25 bis 30 km in der Stunde, die südliche Rampe des Gotthard hinauf. Wir hatten Rodi-Fiesso und auch Ambri-Piotta passiert und kamen in die eigentliche Lawinengefahrzone.
Mit besorgten Blicken musterten wir links die steilen Berghänge und Schluchten, die sich dort längs der Linie schroff und unheildrohend gegen dieselbe senken.
Schon waren wir auf halbem Wege gegen Airolo, als uns ein Streckenwärter mit geschwungener roter Flagge entgegenkam und uns zum Anhalten des Zuges veranlasste.
Da wir am Schlusse des Zuges wie auch vorn eine schwere C 5/6-Lokomotive hatten, musste das Anhalten immerhin mit grosser Vorsicht geschehen, um starke Stösse und Kupplungsbrüche zu vermeiden. Nun, das Anhalten ging ohne Störung vor sich.
Der Wärter erklärte, dass soeben, zirka 200 Meter vor uns eine Lawine auf das Geleise gefallen und deswegen die Strecke nicht befahrbar sei.
Sofort begab ich mich mit dem Wärter zur Stelle. Der Schnee lag auch wirklich auf dem Geleise nahe dem Berghang, also demjenigen, das wir passieren sollten, bis zu drei Metern tief. Abgesehen von der Entgleisungsgefahr, wären wir mit dem Zuge infolge des starken Schneewiderstandes niemals durchgekommen. Nun, was tun?
Uns folgte bald, ebenfalls von Süden kommend, ein Schnellzug. Es galt, diesen nicht oder doch nur wenig zu verspäten.
Nachdem ich im Verein mit den übrigen anwesenden Eisenbahnern die Lawine, so gut es ging, untersucht hatte und zum Schlusse gekommen war, es handle sich mehr um grosse weiche Schneemassen, als um Geschiebe, Baumstämme, Felsstücke etc., die oft im Lawinenschnee heimtückisch verborgen sind, entschloss ich mich rasch, zu versuchen, ob ich nicht die Lawine mit leerer Maschine durchstossen könne, um wenn möglich die Strecke bald frei zu bekommen!
Ich vertraute auf die ungeheure Kraftentwicklung (von über 2000 Pferdekräften) der stärksten aller Dampflokomotiven, eben unserer C 5/6.
So begab ich mich wieder zum Zuge, liess die Lokomotive abhängen und hiess den Heizer die Laternen vorn auf dem Stossbalken entfernen, und nun ging's frisch drauflos auf den kalten weissen Feind.
Mit offenem Regulator und nahezu ganz ausgelegter Steuerung sausten wir auf die Lawine zu.
Ich gebe zu, dass mich eine Zeitlang ein ganz unsagbar kitzliches Gefühl beherrschte, namentlich im Augenblick, als unser stählerner Titan sich in die Schneemassen grub.
Auch der Wärter mitsamt seinem Fraueli traute der Sache wohl nicht recht. Ich sehe sie jetzt noch, wie sie, als gälte es dem Weltuntergang zu entfliehen, davon sprangen und schleunigst hinter und in ihrem Häuschen Deckung suchten.
Ein gewaltiger Ruck, und eine mächtige Schneewolke hüllte uns ein. Wir fühlten den gewaltigen Widerstand der gepressten Schneemassen. Eine Zeitlang befürchtete ich, wir kämen nicht durch, oder, was noch schlimmer gewesen wäre, wir entgleisten. Aber mit Riesengewalt schob die mit höchster Kraftentfaltung arbeitende Maschine die ganze ungeheure Last vor sich her. Langsamer und langsamer ging's zwar, endlich aber wieder schneller, und da wusste ich: wir hatten gesiegt. Durchstossen war die Lawine, der Weg war frei!
Freilich sah man's der Maschine an, dass sie ein Schneebad genommen hatte. Vorn auf der Plattform vor der Rauchkammer türmte sich der Schnee bis zum Kesseloberrand. Jedoch mit Ausnahme einiger gebogener Stangen und Röhrchen, was eine Weiterverwendung der Maschine nicht ausschloss, war das Abenteuer gut abgelaufen, und wir konnten zufrieden sein.
Mit verhältnismässig kleiner Verspätung konnten wir, nachdem die Maschine wieder an den Zug gekuppelt war, die Fahrt fortsetzen.