Göschenen, 3 Minuten Aufenthalt

Langsam setzt sich der schwere Schnellzug in Airolo wieder in Bewegung, und nach Erreichen der Höchstgeschwindigkeit verschlingt uns der stets geöffnete Rachen des Südportales des Gotthardtunnels.
Nach dem strahlenden Sonnenschein der Leventina gewöhnt sich das Auge im Tunnel nur langsam an das elektrische Licht.
Der Körper, nach stundenlangem Aufwärtsfahren an die schiefe Sitzweise gewöhnt, streckt sich wohlig aus, denn nun fährt der Zug fast eben dahin.
Tausendfach widerhallt der Lärm an den granitenen Wänden dieses grandiosen Werkes von Menschenhand.
Und doch, des Menschen Sehnsucht ist und bleibt das Licht, und darum richten sich die Gedanken jetzt auf die herannahende Ausfahrt aus dem Tunnel.
Welches Wetter wird uns dort empfangen?
Die letzte Laterne, Fahrrichtung links, trug die Nummer „1“, und bald darauf donnert der Zug aus dem Nordportal über die breite Reussbrücke und fährt nach leichter Kurve in den Bahnhof Göschenen ein.
Ein Knirschen der Bremsen und der Zug hält an.

Göschenen, vor dem Bahnbau

Göschenen, vor dem Bahnbau

In die nachfolgende kurze Stille fällt der Ruf des Lautsprechers: „Drei Minuten Aufenthalt“, „trois minutes d’ arrêt“, „tre minute di fermata“.
Alle Türen der Abteile und Wagen haben sich geöffnet, als wären wir in einen Grossbahnhof eingerollt. Und doch liegt in dem Talausgang am Zusammenfluss der beiden Reussen nur ein kleines Dörfchen mit einigen hundert Seelen!

Schon in Zeiten der Säumerei über den Gotthard bestand hier ein Reit- und Saumtier-Auswechselplatz und hier wurde nochmals gerastet, bevor man in die Schöllenen einstieg.
Diese Tradition ging auch im Verlaufe der stürmischen Verkehrsentwicklung vom Saumtier zum mit zwei Lokomotiven bespannten Gotthardexpress nicht verloren.

Auch hier wird die zweite Lokomotive des bergwärts fahrenden Zuges abgekuppelt und so wie früher zur Zeit der Gotthardpost empfinden die Menschen heute noch das Bedürfnis nach Rast und Verpflegung.
Als die Züge noch mit Dampflokomotiven geführt wurden, dauerte der Aufenthalt recht lange, wenigstens für uns an Tempo gewohnte moderne Menschen.

Da verliess männiglich die verrussten Wagen und suchte sich ein wenig zu bewegen und reichlich zu laben.
Da standen viele Tische bereit und Bänke davor, und es wurden regelrechte Mahlzeiten serviert.

Mittagszugin Göschenen

Dieselbe Situation einige Jahre später.
Die Zugmaschine ist inzwischen eine
schwerere A 3/5 von Maffei.
Die Passagiere vertreten sich die Beine
und verpflegen sich auf dem Perron.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts, als der zu Weltruf gelangte Dichter Ernst Zahn das Zepter als Büfettier führte, gab es nicht wenige, welche die gebotenen kulinarischen Genüsse mit geistiger Kost zu verbinden wussten und nicht eher weitergereist wären, ohne mit dem Dichter-Wirt persönlich Kontakt genommen zu haben.

Dann verschwanden die imposanten Dampfrosse und an ihre Stelle traten die leistungsstarken elektrischen Lokomotiven.
Mit ihnen verkürzte sich die Fahrzeit durch das Reusstal und die Leventina um ein Beträchtliches, und auch der Aufenthalt in Göschenen schrumpfte auf das Minimum von drei Minuten zusammen.

Was sich früher in mehr als einer halben Stunde abwickeln konnte, drängt sich heute in diese kurze Zeit zusammen. Es ist daher verständlich, wenn jetzt, kaum ist der Zug zum Stehen gekommen, alle Durstigen und Hungrigen sich förmlich aus den Abteilen stürzen, um an die beim Buffet aufgestellten Tische zu eilen.

Der kleine Bahnhof gleicht plötzlich einem aufgescheuchten Bienenschwarm, der sich um seine Königin zu sammeln sucht.
Diensteifrige Hände reichen heisse Milch und Milchkaffee sowie Suppe in Kartonbechern, warme und kalte Würstli, belegte Brote und Esswaren.
Dann beginnt der Kampf um die Mahlzeitencoupons, und mancher muss wieder unverrichteter Dinge in den Zug steigen, weil er vergessen hat, diese so wichtigen Märkli mitzunehmen.

Aber es gibt auch hier stets hilfreiche Leute, die selbst einem fremden Mitreisenden mit einem Coupon aushelfen und mit einem spontanen Dankeswort zufrieden sind.
Zwei Minuten des Aufenthalts sind verstrichen. Ein Teil der Reisenden geht schon mit dem Gewünschten zu den Wagen, während der Rest noch der Dinge harrt. Da kann man oft Leute sehen, die, in jeder Hand einen vollen Kartonbecher, sich förmlich durch die Menge hindurchbalancieren, und mache Verwünschung wird ausgestossen, wenn ein Unvorsichtiger dagegen anrennt.

Fast drei Minuten Aufenthalt.
Der Abfertigungsbeamte und das Zugspersonal haben die nötigen Diensthandlungen vorgenommen. Die Bremsen sind geprüft, die Strecke ist frei und am Lautsprecher ertönt die dreisprachig gehaltenen Aufforderung zum Einsteigen.
Die Letzten streben eilig dem Zuge zu. Die Wagentüren werden vom Zugspersonal geschlossen, ein prüfender Blick gleitet den Zug entlang und nach Aufleuchten der grünen Signallampe zieht das Stahlross an.
Abwärts geht es. Von über 1100 m. ü M. rollt der Zug auf federnden Achsen eilig durch geniale Kehren im Bergesinnern durch das wildromantische Reusstal an den lieblichen Vierwaldstättersee.

In Göschenen haben sich die Rollladen des Buffet-Kiosks wieder geschlossen. Die grossen Türen im Buffet II. und III. Klasse haben sich geöffnet und je vier geübte Arme heben die noch teilweise mit Esswaren belegten Tische ins Innere des Raumes.
Wie ein Ferienhaus nach Abzug seiner Bewohner mutet der verlassenen Perron mit den lang gestreckten Bahnhof-Gebäulichkeiten an.
Ein fast hörbares Aufatmen geht durch die Reihen der Angestellten, die dem Ansturm des Menschenschwarmes standgehalten haben. Es braucht fürwahr eine geübte Hand und einen klaren Kopf, um in diesen kurzen Minuten all die Wünsche befriedigen und doch nachher mit der Abrechnung bestehen zu können.

Göschenen drei Minuten Aufenthalt, verbunden mit einer alten Tradition, bleibt den Gotthardreisenden stets gerne in Erinnerung als etwas Einmaliges, und wer gekostet hat, wie angenehm eine solche Zwischenverpflegung im Freien nach langer Fahrt mundet, der möchte sie ein nächstes Mal nicht mehr missen.